Thomas' Gedanken zum Tage und zur Zeit

 

 

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Die Wahrheit ist aber: Das Leben ist hart und gefährlich. Wer nach seinem eigenen Glück sucht, findet es nicht. Wer schwach ist, muß leiden. Wer nach Liebe verlangt, wird enttäuscht werden. Wer nach Frieden strebt, wird Streit finden. Wahrheit ist nur für die Unerschrockenen, Freude ist nur für den, der sich nicht fürchtet, allein zu sein. Leben ist nur für den, der sich nicht fürchtet, zu sterben.

Joyce Cary

Als hätte dieser große Zorn mich von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.

Albert Camus

 

  • 1.11.2008

 

Es fängt mal wieder eine neue Seite an. Nur der Vollständigkeit halber und damit ich es mir merken kann.

 

  • 2.11.2008

 

Der Kompetenzerwerb von Kindern: Früher oder später wird jedes gesunde Kind alle Fähigkeiten erlernt haben, die es braucht, um in unserer Gesellschaft zurecht zu kommen: Sitzen, Gehen, Essen, Reden, Wertentwicklung, der Gebrauch von Messer und Gabel. Der jeweilige Zeitpunkt ist von Mensch zu Mensch verschieden und richtet sich nach der Natur und Begabung des Kindes. Wenn wir, das wissend, dem Kind vertrauen, dann wird es lernen, in seine eigene Entwicklung zu vertrauen und so früh wie möglich uns nachstreben. Wenn wir das aber nicht tun, weil uns dieser oder jener einen Zeitplan vorgegeben hat, behindern wir den kleinen Menschen und machen ihm das Leben schwer, weil er Hürden überwinden muss, die nicht seine sind, sondern inkompetenten Systemen entstammen. Fahrrad fahren ist so schon schwer genug. Insofern brauchen sich Eltern keine Mühe zu geben, die Entwicklung des Kindes durch sinnlose Erziehungsversuche voran zu treiben (Komm, Kevin. Tschüß Kevin, Mama geht jetzt nach Hause! Komm jetzt, Kevin!). So wird nur Widerstand entwickelt, mit dem am Ende das Kind auch noch sich selbst behindert und in sich selbst gefangen setzt.

 

  • 8.11.2008

 

"Statt werden zu wollen wie dieser oder jener, mache aus dir einen schweigenden, reglosen Giganten. Nichts anderes ist der Berg. Verschwende die Zeit nicht damit, Menschen beeindrucken zu wollen. Wenn du so wirst, dass die Menschen dich achten können, werden sie es auch tun." (Musashi)

Let us be two severe giants, not less lonely for a partnership. (Cohen)

Durch bewusstseinserweiternde Drogen zur Spiritualität? Das ist Quatsch. Das ist so, als wollte ich durch einen Schlag aufs Auge mit Sternchensehen zur Astronomie. Das ist nur der übliche durch blendende Theorie verschönerte Weg in die Trägheit. Tatsächlich geht es nur darum, Drogen zu nehmen. Bei uns.

Es ist interessant, wie viele Menschen Zuflucht zu Göttern oder Teufeln nehmen, wenn ihre Not groß wird. In der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 wie auch sonst immer wieder hatten die Hanussens geradezu Massenzulauf, hier und da und überall, auf jedem Kontinent und zu jeder Zeit. Und je größer die Not, um so bereiter der Zulauf. Im schlimmsten Unglück oder extremsten Glück dann sind sie die Gestraften des Teufels oder das Kind Fortunas persönlich. Bemerkenswert ist auch, wie sehr sich der Horizont verengt: ICH bin die Mitte der Welt, alle Richtungen vereinen sich in mir, ja schon, aber außer mir gibt es nichts. Und das führt dann in die perspektivische Verzerrung. und natürlich, alle vorher haben sich geirrt, aber ich bin es wirklich oder diesmal ist es wahr.

Schließlich gibt es noch die, die glauben, dass sich unser Universum gar nichts aus uns macht und auch nicht weiter um uns kümmert, dass wir ihm schlicht egal sind, ja noch nicht einmal registriert werden, so wenig wie Escherichia coli in unserem Darm. Dazu gehör ich auch, aber sehr viele machen daraus ein heavy-metal-mäßiges Heidengeschrei, was mich annehmen lässt, dass sie unzufrieden sind damit. Nun stehnse da und treten die Mauer, weil die sich nicht um sie schert, und sind wütend wie die Kinder, weil einfach gar nichts passiert. Dass die Gleichgültigkeit dieser Welt, anders als Camus sagt, nicht einmal zärtlich ist, sondern dass sie einfach nur gleichgültig ist, ist wohl recht schwer zu akzeptieren.

1944. In Auschwitz-Birkenau, an der perversen Rampe des Grauens, dessen Nachgeborene wir sind. Damit nicht der Eindruck entsteht, ich sei der Meinung, das Zeug zur Verderbtheit hätten nur die Anderen. Ganz vorne eine Mutter mit einem etwa ein Jahr alten Kind. Will sie vielleicht zum Vater des Kindes gehen? Der Junge links hinter ihr schaut nach links, irgendetwas dort muss seine Aufmerksamkeit erregt haben. Rechts daneben, aber vier Meter weiter hinten ein Mann, dessen rechter Fuß nackt ist, er trägt keine Hose vor seinem Mörder. Er steht allein. Fast in der Mitte eine recht alte Frau mit weißem Kopftuch. Ganz links, etwa zehn Meter vom unteren Bildrand: ein kleines Kind neben einer Tasche. Links am unteren Bildrand ein Korb mit Dingen darin. Am rechten Bildrand sind die Männer, in der Mitte die Frauen. Und die Kinder. Im Hintergrund die Viehwaggons. Ich frage mich, ob es laut war. Wie viele Schmerzen sind auf diesem Bild.

Was lehrt uns das über die Welt und die Menschen. Kann man uns erziehen. Womit. Ich frage mich, ob wir Grenzen haben und stelle fest: Nein. Zwischen dem Massenmörder und Mutter Theresa ist der Mensch. Aber: Kleineres Leid wird nicht durch großes relativiert und unwichtig.

 

  • 14.11.2008

 

Die Leute – der Konsument – der Verbraucher, kennt man ja schon. Die Wirtschaftssubjekte – das allerdings grenzt schon an Tätlichkeit. Letztlich spricht ja dieser Wirtschafts-Nobelpreisträger Reinhard Selten von sich selbst, wenn er glaubt, von anderen zu sprechen, aber dass jemand mit so einem Selbstbild auch nur versuchen darf, mich anzupöbeln, ist schon ein starkes Stück. Du Wirtschaftssubjekt.

Ich mag nicht auf den Verpackungen von zahnenden, bezahltenLeuten, die ich nicht kenne, angegrinst werden, als sei der Konsum dieses Artikels der Anfang vom Weg ins Paradies. Es widert mich an. Oder von Zahncremen mit ihren Artikelnamen angeschrien werden, und das in unausgeschlafenem Zustand.

Unpünktlichkeit I: selbstverständlich können die chronisch Unpünktlichen zur rechten Zeit kommen, allein sie wollen es nicht. Also gehören sie auch so behandelt. Und wie behandelt man Respektlose?

Die tollsten Schimpfworte fallen mir beim Betrachten von Menschen oder Fotos von ihnen ein. Z. B. heute sah ich ein Foto vom scheidenden Präsidenten. Das ist übrigens die gleiche Gefahr für die Menschheit, die ihrem Nachfolger "Viel Spaß" gewünscht haben soll. (Ich war drauf und dran, das Bild hier einzustellen, um die mögliche Fallhöhe im Gegensatz zum Bild von der Rampe von Auschwitz-Birkenau zu markieren, habe mich aber aus Gründen der Menschlichkeit dagegen entschieden. Ich frag mich, was die Bücher auf dem Bild sollen. Das Bild ist autorisiert, der Gesichtsausdruck allerdings ein Kriegsgrund.)

 

  • 15.11.2008

 

Das Wasser

Ich sitze im ICE von München nach Hannover, lese Musashi von Eiji Yoshikawa. Draußen fliegt die Landschaft vorbei. In einer kleinen Lesepause schaue ich aus dem Fenster und sehe einen Fluss, der neben der Bahnlinie verläuft, in Mäandern große Schlaufen ziehend. Weiterlesen, denn der Zug fährt auf schneller, gerader Strecke 260 km/h, und das ist das Größte: bei rasender Geschwindigkeit in aller Ruhe lesen. Wie das so ist, schaue ich fünf bis zehn Minuten später wieder aus dem Fenster und sehe den gleichen Fluss erneut. Nachdem ich zunächst dachte, ich hätte ein dejà vu, wird mir bewusst: es ist der gleiche Fluss wie der, den ich eben schon sah. Er ist auch jetzt noch dort, er ist auch jetzt noch an der Quelle, er ist auch jetzt schon am Meer. Während ich hier sitze und vorbei rase auf einer schnurgeraden Strecke, die wir uns so ausgedacht haben, ist der Fluss in seinen Windungen immer schon da. Und er ist an der Quelle. Und er ist schon am Meer. Und er ist in den Wolken, und er ist noch im Stein.

Warum, so habe ich mich dann gefragt, sollte es mir eigentlich anders gehen.

Und überhaupt: "Viel Spaß". Wobei denn? Wenn mir ein Kriegsverbrecher und Betreiber von Folterlagern, einer, der nichts versteht und nichts kann und ein Ex-Alki ist, ein Versager und Verderber, viel Spaß wünscht, dann hält er mich entweder für Seinesgleichen, oder er ist schon so völlig verblödet, dass er nicht einmal die Perversion dieses saloppen "much fun" registriert. Es gibt dafür zwei Erklärungen: entweder, er gehört zu den Leuten, denen auch Essen eine Unterhaltung und Spaß bieten soll und die dann blöde an einer Brezel verrecken kann, oder es hat ihm tatsächlich Spaß gemacht, einen völkerrechtswidrigen Krieg zu führen und ein Folterlager einzurichten. Ich weiß nicht, welche Version mir ekelhafter vorkommt. Und so einer durfte, von amerikanischen Bürgern gewählt und amerikanische Gerichten durchgeboxt, es noch einmal für vier Jahr versuchen und unsere Welt zu einem hässlicheren Ort machen.

Überhaupt ist ja die Wiederwahl dieses, hm, ich weiß jetzt nicht, wie ich dieses präsidiale Teil nennen soll, ein solches Armutszeugnis für das Land, dass es mich gruselt angesichts dieser geistvergessenen und großspurigen Überheblichkeit, Selbstherrlichkeit und Bräsigkeit von Wählern, die sich für soetwas entscheidet.

Andererseits: als ich neulich von einem Amerikaner hörte, dass er sich schäme für sein Land und dass es ihm (in der Zeit vor Obama) peinlich sei, da tat er mir schon leid. Und überrascht registriere ich, dass mich ein wenig die Vorfreude auf den neuen Präsidenten erwischt hat. Sowas kenne ich sonst nicht von mir.

  • 21.11.2008

 

Miniaturen

Freudlose, körperarme weibliche Wesen mit der Lehrerinnenschlinge aus Indienschal um den Hals, die mit einem missbilligenden Zug um den Mund in asketisch kleinen Schlucken warmes Wasser aus der mitgebrachten Thermoskanne trinken, weil sie gelesen haben, dass das der Gesundheit und damit einem langen Leben dient. Und überhaupt, weibliche Wesen: ist diese Begriffskombination nicht ekelhaft?

 

  • 22.11.2008

 

Noch einmal der Hinweis auf den Aufsatz von Peter Bieri, damit ich ihn auch auf dieser B-Loq-Seite habe: Wie wäre es, gebildet zu sein. Hinter diesem Link steht er zum Herunterladen und Lesen bereit. Bitte. Ich wünschte, er wäre Pflichtlektüre.

Unpünktlichkeit II: Wie groß ist die mit Unpünklichkeit verbundene Respektlosigkeit? Wem wird der Respekt verweigert? Ist das zu vernachlässigen oder von Bedeutung?

 

  • 29.11.2008

 

Erzbischof Lefebvre wurde 1988 vom Vatikan exkommuniziert. "Auch der Bischof des angrenzenden Bistums hat vor den auf Lateinisch gehaltenen Messen der umstrittenen Katholikengruppe gewarnt. ... ["Ich warne vor den Messen. Sie sind des Teufels!"] Ihre Taufen würden nicht anerkannt und die Kinder nicht ins offizielle Pfarrregister eingetragen ["Unseres ist das Offizielle!" - "Nein, unseres!"]." Ich bin sicher, Petrus lässt sich einen Auszug aus dem offiziellen Pfarrregister vorlegen. Ich sehe diplomatische Verwicklungen zwischen Petrus und den beiden katholischen Kirchen voraus. - Die Vorhölle für ungetauft gestorbene Kinder haben sie ja jetzt vor gar nicht allzu langer Zeit für nichtig erklärt. Da bin ich aber froh! Diese würdelosen, verkleideten Trottel! Es juckt mich fast, einzutreten, um wieder austreten zu können.

Die echte Ungeheuerlichkeit, das sind nicht die Horrorspiele. Da können Spieler schon unterscheiden, ob es Spiel oder Ernst ist. Die wirkliche Schweinereien sind Dokumentationen auf RTL oder Sat1, in denen uns dazu aufgeforderte Leute nicht nur ihre Befürchtungen bezüglich der Vollnarkose beschreiben und ihre unmaßgeblichen ästhetischen Vorstellungen auf den Tisch knallen, statt die Journaille mit feuchten Lappen zu vertreiben, sondern in denen dann auch noch eine Brust-Operation gezeigt wird: im 16:00-Fernsehen eine Operation an der weiblichen Brust inclusive Vollnarkose, Rasur, Kreuzlegung und Einschnitt mit dem Skalpell um die Brustwarze herum bis Blut fließt, damit am Ende irgendeine Trullala darlegen kann, dass ihr nun, mit 500 Gramm weniger Brust wohler ist. Das sind doch die echten Einladungen zu Blutorgien: wir spielen Brustverkleinerung. Diese Blödiane: ich würde sie verklagen, wenn es nicht so sinnlos wäre vor der Menge des ganzen restlichen hirnverderbenden Blödsinns.

Mit zunehmender Erfahrung und Lebensalter dehnt sich der Zeitraum, den wir treffend prognostizieren können, aus. Dadurch verändert sich die Erlebnis-Perspektive: das Erlebte wird kürzer wahrgenommen, dadurch scheint die Zeit weniger zu werden und schneller zu vergehen. Die subjektiv erlebte Zeit verkürzt sich, der Rest wird immer schneller immer weniger. Dies scheint mir auf einen Fehler hinzuweisen, der unter Umständen in der Bequemlichkeit des Prognostizierens liegt. Wenn ich nämlich voraussehe, was geschehen wird, sehe ich weniger von dem, was geschieht.

 

  • 3.12.2008

 

Nietzsche: Es gibt keine Wahrheiten, es gibt nur Perspektiven. (In Anlehnung an Epiktet: Nicht die Dinge an sich beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben. Bei Nietzsche ist es die Perspektive, bei Epiktet die Meinung.)

Voltaire: Wenn du ein gläubiger Mensch werden willst, dann fang damit an, dass du dich verhältst wie ein gläubiger Mensch. (In Anlehnung an die Variationen: Wenn du ein so gearteter Mensch werden willst, ...)

Die Kombination aus beidem: anything goes. Da wir die Wahrheit nicht kennen, unsere Haltung aber selbst bestimmen können, ist die Welt das, was ich will.

Eine Stoa in Athen. Epiktet war übrigens Stoiker. Hier im Säulengang, der Stoa, wurde im Auf- und Abgehen diskutiert, gestritten, gelehrt, entwickelt und fortgeschrieben. Ich stelle mir Lehrer und Schüler in griechischer Toga vor, im Schatten der Wandelgänge, von Säulen begrenzt, der Geist in unbegrenzten Fernen.

 

  • 7.12.2008

 

Vom Gesetz her soll jetzt festgelegt werden, wie viele Kubikmeter Luft einem Raucher zum Verstinken und Vergiften zur Verfügung gestellt werden. Denn ich frage mich: Wieso sollte der die Atemluft meines Kindes verderben dürfen? Und ab wann ist das Körperverletzung?

Im schönen Vöhrum: mein persönlicher Sonntag-Morgen.

 

10.12.2008

. Heute vor zehn Jahren, um 18:06, habe ich meine Kinder Sina-Tabea und Till-Adrian zum letzten Mal gesehen.

  • 14.12.2008

 

Es gibt ja einige furchtbare Erscheinungen im Fernseh wie Frauke Ludowig (was ist das?), den Raab (ähm, ähm), Bohlen, Pocher und so weiter, aber das widerwärtigste Verhalten ist von Kai Ebel. Wenn ihr mal den Tiefpunkt der menschlichen Entwicklungsfähigkeit zum arbeitenden Menschen sehen wollt, wenn ihr mal sehen wollt, wie verderbt ein Mensch werden kann, achtet mal darauf, wie diese fleischgewordene Rücksichtslosigkeit auftritt. Wer dachte, dass es nach Poptitan Bohlen nicht tiefer geht, dass da das untere Ende der Skala ist, wird von dem Ebel angenehm enttäuscht: es geht immer noch ein Stück ekelhafter. Das dollste, was er sich bisher geleistet hat, war der Versuch eines Interviews mit dem Bruder von Lewis Hamilton (Formel1-Weltmeister) unmittelbar nach dem Sieg von Lewis. Der Bruder ist behindert (Kinderlähmung?) und im Gedrängel gestürzt. Und dieses Stück hält ihm sein RTL-Mikrophon vor die Nase und fragt ihn. Die Regie hat ihn dann gerade noch weggeschaltet, aber ich hab den Anfang trotzdem gesehen. Der Ebel kennt da sicher nix. Ich glaube, wenn der die Gelegenheit hätte, würde der auch noch ein sterbendes Kind in den Armen seiner Mutter interviewen und es mit dem Recht der Menschen auf Information begründen.

 

  • 18.12.2008

 

Interview mit dem Journalisten Eric Baumann, der einen unheilbaren Hirntumor hat. Er hat vom behandelnden Arzt "Einen Sommer noch" prognostiziert bekommen und inzwischen vier Sommer überlebt. Er hat ein Buch darüber geschrieben.

Der Autor berichtet im Interview vom seinem und dem Leben mit seiner Freundin und dass es ihm und ihnen beiden oft gelingt, nicht an die Krankheit und den bevorstehenden Tod zu denken. Das ist verständlich, dass er das als Gelingen bezeichnet, zumal er ja eine Freundin hat, die gesund ist, und doch hat es mich kurioserweise überrascht. Natürlich hat er sich mit seiner Situation auseinander gesetzt, sonst hätte er ja kein Buch darüber geschrieben, und ich bin auch nicht in seiner Situation und kann es also auch gar nicht beurteilen, und ich will Eric Baumann auch keine Ratschläge erteilen, er wirkte klar genug, um das nicht zu brauchen. Darüber hinaus glaube ich, dass es seine positive oder neugierige Lebenseinstellung ist, die ihn am Leben hält. Wer weiß das schon. Und schließlich kann ja auch mich jederzeit der besoffene LKW von links erwischen.

Was mich erstaunt, war meine eigene Überraschung. Der Gedanke war in etwa: ich würde mir diese Grenzsituation in jedem Moment vor Augen halten und sie auskosten. Würde ich natürlich auch nicht, das ist mir schon klar. Aber mir wurde auch klar, wie ich Grenzerfahrungen schätze: wenn das mein Leben ist, dann soll's das auch sein.

 

  • 20.12.2008

 

Miniaturen

Neuerdings müssen ja die Raucher leider draußen bleiben. Das hat zur Folge, dass man sie an bestimmten Orten gehäuft beobachten kann, beispielsweise am Eingang zum Bahnhof. Geht dort bitte mal langsamer, ihr könnt was bestaunen. Eine Art des Rauchens gefällt mir besonders gut: die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger ganz weit vorne, die Lippen gespitzt und mit einem solch heftigen Zug, dass man denkt, der Raucher sei am Verdursten.

Eine andere Art des Rauchens ist bevorzug bei Depressiven zu beobachten. Sie gehen langsam, wie in Trance, der Blick ist gesenkt und zugleich in unerreichbare Ferne gerichtet, die Zigarette ganz weit vorn zwischen den braungerauchten Fingern, und sie ziehen bei jedem Atemzug, so dass sie auf etwa zwölf Züge pro Minute kommen. Meistens rauchen sie selbstgedrehte Zigaretten. In jeder größeren Stadt gibt es mindestens einen davon, in meiner Stadt kenne ich zwei vom Sehen.

Was nicht aufhört: Mütter, die in Gegenwart ihrer Kinder rauchen, zum Teil in die Kinderkarre hinein, teilweise über sie hinweg, zum Teil auch mit dem Vater zusammen. Rauchen sie zu Hause draußen oder auch in der Gegenwart des Kindes? Wie erklären sie dem Kind die chronische Bronchitis und das daraus resultierende Lungenemphysem? Und wie, dass das Kind nicht auch mit dem Rauchen anfangen soll? Haben sie ein schlechtes Gewissen? Plagen sie Zweifel? Macht ihnen das Gedanken?

Eine Reihe junger Frauen zwischen 16 und 24 kaut sich, wenn sie sich unbeobachtet glaubt, von innen her eine Wange oder die Unterlippe ab. Dabei verzieht sie den Mund so, dass das Abkauen der Unterlippe auch funktioniert. Als wir in den 70ern die Haare mit einem Kopfschwung nach hinten warfen, wie es heute nur noch Pudelrocker tun, fanden wir das cool, wer's tat und mittels langer Haare tun konnte, war in. Ist das mit dem Sich-Abkauen junger Frauen ähnlich? Auch cool? Aber warum tun sie es dann nur in unbeobachteten Momenten? Nämlich unser Haarewerfen war notwendig öffentlich. Dieses Kauen ist es nicht. Was verzehrt sie von innen? Der Verzicht? Das schlechte Gewissen wegen der Gedanken? Nachdenlichkeit über vertane Chancen? Der Zahn der Zeit, der sich im eigenen Munde niedergelassen hat? Ach...!

 

  • 21.12.2008

 

""Gloria [Gloria von Thurn und Taxis, A.d.V.] vertritt halt die Meinung der katholischen Kirche, und die hat ihren Standpunkt: Sex ist heilig, er dient der Fortpflanzung, nicht dem Vergnügen", sagte Maya Gräfin von Schönburg-Glauchau der "Welt am Sonntag". "Dass der Mensch anders tickt, ist klar. Fleisch ist schwach. Ich habe auch Schwierigkeiten mit dem sechsten Gebot: Du sollst nicht unkeusch sein. Trotzdem kann man doch an das höhere Ziel appellieren", sagte die 50-Jährige." Zitat jjc.

Gibt es eigentlich nicht gerade eine Weltwirtschaftskrise, Probleme in Afghanistan, Irak und Mumbai, Hunger auf der Welt und eine Cholera-Epidemie in Simbabwe und andere Großverbrechen? Aber warum meint der Vogel jjc vom Spiegel, uns darüber informieren zu sollen, was eine 50-Jährige vom Poppen denkt? Ich meine, Bildzeitung, das wärs ja noch, aber jetzt auch der Spiegel? Nimmt der deren unmaßgebliche Meinung jetzt auch schon auf und gibt sie wieder! Macht der das, um vorzuführen, wie sich diese Leute selbst vorführen und dann auch noch mit einer Knarre in der Hand fotografieren lassen? Ist das Satire? Versteh' ich da was nicht? (Dies ist Bild 3 der Fotostrecke aus obigem Zitat:)

Die Maya, oder ist das die Gloria, man kann die ja kaum auseinanderhalten, die jedenfalls tritt mit strahlendem Gesicht und begeisterten Augen vor ihre (?) Tür mit einem Gewehr im Anschlag. Dieses strahlende Gesicht! Diese Tür, ja dieses Thor schon fast dieses großen Hauses aus altem Stein, nicht in München, sondern in Schönburg-Glauchau wohl gar? Dieser fachmännische Handgriff der linken Hand um den Lauf des Gewehres! Oh dieses fabelhafte Gewehr, menschlichen Weistums sinnreiche Erfindung, Präzisionsgeschütz, tötungssichere, doppelläufige Maschinengeburt, wer weiß deinen Namen! Und diese strahlende, großkarierte Trulla im Hintergrund! Oh wie schön das alles ist! Sie, die Maya Gräfin von Schönburg-Glauchau sagt, das Leben sei auch heilig. Daher ist ihr Gewehr sicher nicht geladen, und man kann es auch gar nicht laden, sondern da kommt ein Fähnchen raus, auf dem steht Peng. Haha! Dieses strahlende Gesicht scheint zu sagen: gleich werde ich töten, ich freu mich schon drauf, das wird ein Hauptvergnügen, ich will es tun; aber nein, weit gefehlt, das kann es nicht sein, denn dann fällt uns ja ein, dass das Leben und auch der Sex heilig sind und das solche Gräfinnen ganz sicher nicht heucheln würden, dazu sind sie zu fein, zumal sie ja dann im Fernseh nicht an sich halten können und vor einem Kardinal Meisner niederknien. Das war übrigens auch der, der sagte, Homosexualität könne man ausschwitzen. Joachim! Altes Haus! Machst mit der knieenden Gräfin auch nicht gerade einen glücklichen Eindruck. Bei solchen Wahlverwandtschften fragt man sich doch, wozu das Gewehr gut sein soll und wo um Himmels Willen Schönburg-Glauchau liegt. Man gut, dass nur ein Fähnchen rauskann. Angesichts solcher Gesichter und Geschichten wird mir doch die Heiligkeit des Lebens erst so voll bewusst.

Und dann: Sex ist heilig...? Muahahahahaaaa! Hey, Gloria und Maya, schon mal Fernseh gekuckt, wo ihr vorkommt? Oder eine Zeitung gelesen, in der ihr vorkommt? Und das ist auch nicht das sechste Gebot, und eines, das sagt, du solltest nicht unkeusch sein, gibt es nicht. Und auch keines, das einfach-nur-Schnackseln von Schwestern verbietet. Ehebrechen meinst du. Ehebrechen. Und wenn du Schwierigkeiten mit dem sechsten Gebot hast, wie sieht dann wohl dein Schießlehrer aus? Und Sex dient nicht dem Vergnügen? Soso. Fleisch ist schwach. Na dann. Und dient nicht dem Vergnügen.

Für deine Erinnerung, Gräfin, die Kurzversion:

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Siehe! Er kommt mit den Wolken, und sehen wird ihn jedes Auge, auch die, welche ihn durchstochen, und heulen werden seinetwegen alle Geschlechter der Erde. Das ist, nach der Vorrede, der Anfang der Apokalypse, der Offenbarung des Johannes auf Pathmos, hier in Anlehnung an die Übersetzung des Leander Von Ess, (Idou erchetai meta ton nefelon ... ) und alle Geschlechter der Erde meint alle Geschlechter der Erde. Also auch das der Thurn und Taxis. Ich mag ja nun Agnostiker sein und darüber mag man denken, was man will, aber Unfug mit der Bibel treiben, das passt mir nicht.

Aber das konnte sie natürlich nicht wissen. Die 50-Jährige. Die schnitzt sich wahrscheinlich den Sex so, wie es ihren vom Nicht-Schnackseln, Nicht-Vergnügen oder vom Schießen verwirrten Gedanken gerade mal passt. Oder ihrer Schwester. Reichlich sinnverwirrend, das alles, nicht wahr Maya? Da kommt man sich echt finster vor neben so einer sinnreichen Glühbirne, oder? "Und da es das siebente Siegel auftat, da wurde im Himmel eine Stille, etwa eine halbe Stunde lang." (Apokalypse 8,1)

Ach, Schreiben ist manchmal ein hartes Geschäft, weil es die Gesundheit ruiniert. Die ganz Aufmerksamen können den Prozess sogar verfolgen. Ich würd mich übrigens freuen, wenn jemand meinen Roman bestellt. Es sind ein paar ganz schöne und gelungene Stellen darin, wie ich finde. Besonders gefällt mir das Gespräch zwischen Luca und Sandmann auf dem Markusplatz und die Figur des Francesco Piccolomini, beschrieben in den Kapiteln "Der Dieb I", "Der Dieb II", "Francesco, der Dieb" und "Francesco". Aber auch die Entführung im Café auf dem Campo Santa Maria Formosa finde ich gelungen. Am besten gefällt mir, glaube ich, das Kapitel "Zwischenwelten".

Und damit nicht der irrige Gedanke aufkomme, ich habe immer nur zu nörgeln, gebe ich hier ein Gedicht von Karl Kraus: Gebet an die Sonne von Gibeon. (Das sind übrigens zwei Links: der erste zum Gutenberg-Projekt über Karl Kraus, der zweite zum Gedicht selbst.)

"In diesem kuriosen, abenteuerlichen Durcheinander, das wir Leben nennen, gibt es bisweilen wunderliche Stunden. Die ganze Welt kommt uns dann wie eine Posse vor, deren Witz wir nicht recht einsehen; wir haben nur den stillen Verdacht, dass all der Unfug auf unsere Kosten geht. Allerdings bringt uns dann auch nichts aus der Fassung, alles erklärt sich von selbst. Wir schlucken jede Begebenheit, jedes Credo, jeden Glauben, jede Weltanschauung, jeden harten Gegenstand, einerlei ob sichtbar oder unsichtbar, wie ein Vogel Strauß mit robuster Verdauung, der auch Gewehrkugeln und Feuersteine gierig hinunterschlingt. All den kleinen Arger und Verdruss, drohendes Ungemach, Leibes- und Lebensgefahr, ja selbst den Tod nehmen wir hin als einen freundschaftlichen Tipp, einen vergnügten Rippenstoß, den uns der unsichtbare, unbegreifliche alte Schalk mit List und Schläue verabreicht. Diese getroste Verzweiflung kommt uns aber nur in den düstersten Augenblicken an, nur wenn's bitter ernst wird, und was wir eben noch zentnerschwer genommen haben, gehört dann auf einmal mit zur allgemeinen Posse."
(Herman Melville, Moby-Dick)


  • 22.12.2008

 

Brecht, Bericht eines Schiffbrüchigen

Als das Schiff brüchig war
Ging ich in die Wasser. Des Wassers Gewalt
Warf mich auf einen kalten Steinbrocken.
Ich war von Sinnen alsbald.
Währenddem ging meine Welt unter. Zwar
Als ich aufwachte, mein Haar
War schon trocken.

Ich aß aus Muscheln einiges
Und schlief in einem Baum
Drei Tage, die beste Zeit
Und weil ich hatte nichts als Raum
Ging ich weit.

Der Anblick war mir ungewohnt.
Ich berührte nichts mit meiner Hand.
Nach dreien Nächten habe ich den Mond
Wieder erkannt.

Ich hängte ein Tuch in einen Baum
Und stand daneben
Einmal einen Tag und eine Nacht.
Das Wasser war ruhig.
In meinem Tuch war kein Hauch
Es kam kein Schiff
Es gab keine Vögel.

Später sah ich auch Schiffe
Fünfmal sah ich Segel
Dreimal Rauch.

 

  • 26.12.2008

 

Der Schiffbrüchige: Er ist womöglich auf den Seychellen gestrandet; Muscheln, das Haar war schon trocken, ich schlief in einem Baum, der Anblick war mir ungewohnt: die Insel war jedenfalls nicht Borkum. Da wäre das Haar nass geblieben, der Anblick bekannt, das Wasser wäre nicht ruhig. Andererseits warf das Wasser den Schiffbrüchigen auf einen kalten Steinbrocken. Und kalt ist es im äquatornahen Indischen Ozean nur sehr selten. Naja, Brecht hat das nicht weiter erläutert, und natürlich ging es ihm darum auch gar nicht.

Ich aber habe festgestellt, dass ich auf dieser meiner Homepage seit einiger Zeit Monat für Monat 8 regelmäßige Besuche von den Seychellen habe. Moderne Computertechnik hat mir das mitgeteilt. Wunder der Technik. Geht unsere Verbindung über ein Kabel oder über Satellit? Bist Du Besucher oder Bewohner der Inseln? Hast Du schon immer dort gelebt? Ausgewandert? Tauchst Du dort? Bei Dir ist es zwei Stunden später: es kann sein, dass Du Zeuge wurdest, wie ich neuen Text eingestellt habe. Ich weiss zwar nicht, wer da ist, aber ich sende Grüße an diesen subäquatorialen Ort in der Welt nordöstlich von Madagaskar. Meine Träume ziehen mit den Wolken, die über eure Inseln aus den Weiten des Indischen Ozeans kommen. Mit einem Segelboot und einen Kompressor für Tauchflaschen Unterwasserfotografie betreiben, von Insel zu Insel segeln. Ach, Träume... Hallo, ozeanischer Besucher meiner Seite, schau mal hier: Thschnura@aol.com.

 

 

  • 27.12.2008

 

"Wir dürfen den Tod nicht immer nur als unseren Todfeind betrachten", sagt der Philosoph Wilhelm Schmid in einem Interview. Komisch, denke ich, wer tut denn das nur immer? "Stellen wir uns vor, wir sterben nicht. Wie fühlen wir uns dabei? Angenommen, aus 80 Lebensjahren werden 200." Uiuiui! Das kann man sich ja gar nicht vorstellen! "Ich habe für mich beschlossen: 500 Jahre, das scheint mit ein sinnvoller Zeitraum zu sein". Aha, das hat der Herr Philosoph beschlossen. Er hat beschlossen, das scheint ihm. Und sinnvoll sei das auch noch. Na dann, wagen wir das Unvorstellbare! 500 Jahre (Klatschen aus dem Publikum)! Das ist ja schon fast die Ewigkeit! Da komm ja sogar ich ins Stolpern. Wer soll sich denn das vorstellen!

Dass jetzt schon Philosophen so ein journalistisches Geschwätz unter sich lassen, finde ich bedauerlich.

Wenn Menschen sagen, dass sie nicht sterben wollen, dann meinen sie das nicht so. Sie wollen nicht altern und altern und altern. Sie wollen mit Freunden und Familie sein, auf warmen Sommerwiesen, am blauen Meer, sie wollen, dass die Zeit zum Stillstand kommt. Sie wollen nicht darben, Schmerz leiden, vergesslich werden und den Schlüssel suchen. Ein in die Ewigkeit verlängerter Orgasmus? Bloß nicht! Das ist ja scheußlich. Die Menschen, die nicht sterben wollen, machen sich nur einfach kein Bild von der Ewigkeit. Wie alt soll unser Universum werden? 15 Milliarden Jahre? Die Sonne vergeht und die Sterne erlöschen, nichts ist so, wie wir es uns vorstellen können. Ein neues Universum, noch mal 15 Milliarden Jahre. Und Milliarden Universen. Und das ist nicht einmal ein Bruchteil der Ewigkeit, weil sie ja ewig ist. Das ist ein Irrtum, das will keiner. Wirklich nicht. Sie wollen bloß nicht, dass der Film irgendwann vorbei ist.

Und dann die Suche nach dem Sinn des Lebens. Also zunächst mal unter uns: ich habe bis heute nicht verstanden, was damit gemeint ist. Ich sehe, dass es den Menschen etwas bedeutet, aber ich verstehe es nicht. Was suchen sie? "Im Laufe der Moderne waren viele Menschen froh, diese Selbstverständlichkeit etwa des christlichen Lebenssinns ... losgeworden zu sein. Jetzt aber bemerken die Menschen allmählich: Sie haben für den alten Sinn keinen Ersatz. ... Wir sprechen immer dann von Sinn, wenn wir einen Zusammenhang erkennen." Ja, nur das ist dann der Zusammenhang, nicht der Sinn. "Wenn wir sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, dann gelingt es uns, einen Zusammenhang zwischen uns und der Welt herzustellen." Also der Sinn sei die sinnliche Erfahrung der Welt? O.k., ist das gemeint? Hm, und damit ist die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet? Also: ich lebe, um durch meine Sinne zu erleben, dass ich lebe? Mein Sinnesinventar zeigt mir, wofür ich lebe. Nun wissen wir aber, dass unsere Sinne uns kein Abbild der wie auch immer gearteten Wahrheit vermitteln, sondern nur Übersetzungen für unser Gehirn leisten. Sie sind beispielsweise außerstande, uns zu zeigen, dass die Welt aus Atomen besteht. Der Sinn des Lebens bestehe also darin, uns auf die Täuschungen durch unsere Sinnesorgane einzulassen. In der sinnlichen Erfahrung. Ich weiß nicht. Ist das wirklich eine ausreichende Antwort? So günstig gibt's das schon? Also ich lasse mich ja gerne auf die sinnliche Erfahrung unserer Welt ein, die ich zum Teil sehr schön finde, beispielsweise auf den Seychellen, der Himmel über der Wüste ist sehr groß, ich war da, aber auch ein stürmischer Novembertag an der Nordsee oder ein paar Zeilen aus der Letzten Welt oder dem Fliegenden Berg von Christoph Ransmayr begeistern mich. Und es macht mir auch überhaupt nichts aus, dass es sich um eine Täuschung handelt. Wenn das so ist, dann mehr davon. Es ist möglich, also lasse ich mich ein. Aber dass das der Sinn sein sollte, das finde ich ein wenig tief gehängt. Ich glaube, dass die Menschen, die den Sinn des Lebens suchen, etwas anderes meinen.

Na, wie dem auch sei: ich denke, eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Oder auch: Die Kugel ist Kugel um ihrer selbst willen. Für nichts anderes, und schon gar nicht, um uns einen Sinn zu liefern. (Fortsetzung folgt... ich geh jetzt erstmal in die Stadt, gucken, ob ich schon alle Bücher von Ransmayr habe, da mir die Seychellen doch sehr weit sind.)

Der Himmel über der Wüste, Foto von mir, zum Vergrößern anklicken.

  • 28.12.2008

Wenn aber Menschen nach dem Sinn des Lebens suchen, dann suchen sie doch nach etwas, was "das Leben" an sich "hat", a priori, und nicht nach etwas, was sie ihm geben. Denn wenn sie ihm selbst einen Sinn geben, dann müssen sie damit rechnen, dass sie eines Tages feststellen, dass sie ihm den falschen gegeben haben: Geld verdienen, erfolgreich oder glücklich sein, Gott dienen, Symphonien komponieren. Ich habe Menschen klagen gehört, sie hätten den Sinn des Lebens durch dieses oder jenes Ereignis verloren: "Das Leben hat keinen Sinn mehr..." Als ob das Leben durch Erlebnisse seinen Sinn verlieren könnte. Als ob der Mt Everest durch mein Fieber seinen Schnee verlieren würde. Weder habe ich ihm den Schnee gegeben noch wird er ihn durch mich verlieren. Sollte er ihn aber eines Tages doch verlieren, so macht es keinen Unterschied, denn dem Berg wie dem Schnee ist es egal, ihnen lag nichts daran.

Was nun mich persönlich angeht, so weiß ich nicht, ob das Leben einen Sinn hat, ich behaupte auch, wir können es gar nicht wissen, das ist ein systemimmanentes Problem: Jedes hinreichend komplexe System ist außerstande, sich selbst zu beweisen. Ich glaube aber, dass es einen Sinn in dem Sinne, wie Menschen es wünschen, nicht hat. Und das finde ich interessant, denn es eröffnet Perspektiven, Perspektiven, sage ich Ihnen... (Fortsetzung? Weiß ich nicht. Aber ein Foto von Karl Kraus möchte ich noch dazugeben.)

  • 31.12.2008

 

Wie wirkt es sich auf Dein Leben aus, wenn sich herausstellte, dass das Leben tatsächlich überhaupt keinen Sinn hat? Das wäre doch dann mal eine interessante Frage, oder? Was wäre dann anders? Was würdest Du in Zukunft tun, was lassen?

Ich habe Menschen klagen gehört, so schrieb ich, sie hätten den Sinn des Lebens durch ein Ereignis verloren: "Das Leben hat keinen Sinn mehr..." Du vielleicht auch schon? O.k., nun hat das aber Deine Vorstellung vom Sinn nicht besonders beeinflusst, oder? Wir finden es vielleicht beeindruckend, dass Menschen Dinge erleben, die ihrem Leben eine neue Richtung geben, ziehen aber nicht den Schluss daraus, dass das Leben grundsätzlich seine Richtung auch für uns ändern könnte. Der Sinn aber, den wir suchen, so stelle ich mir vor, muss doch von uns unabhängig sein, nicht wahr? Etwas, was wir uns nicht so beliebig aussuchen wie ein Hemd. Hat es für Dich einen Sinn? Und der ist krisenfest und stabil? Die Klage, nun habe das Leben seinen Sinn verloren, bedeutet doch nichts anderes, als dass es für den Klagenden nie einen gehabt hat, denn so wenig wie der Mt Everest den Schnee verliert das Leben im Allgemeinen durch ein Unglück im Besonderen seinen Sinn. Darüber hinaus lässt sich des Weiteren daraus ableiten, dass selbst wenn es einen Sinn haben sollte, der jedenfalls nicht für uns ist.

Lao Tse im Tao-Te-King, Zeilen 1 - 4: Das nennbare Tao ist nicht das ewige Tao, der nennbare Name ist nicht der ewige Name. Mit anderen Worten: hat das Leben einen Sinn, so hat das jedenfalls für uns Menschen gar keine Bedeutung. Und dann verstehe ich auch, warum ich bis heute nicht verstanden habe, was die Mitmenschen mit der Suche nach dem Sinn des Lebens eigentlich suchen. Und abgesehen davon, dass ich natürlich nicht weiß, ob es einen Sinn hat, ich es aber nicht glaube, ist es mir eigentlich auch egal.

Es gibt Momente, in denen die Stadt anders klingt, ich glaube, ich sagte das schon einmal. Beispielsweise am Silvesterabend ist das so: stiller, als hielte sie den Atem an, um gleich wieder mit dem alten Geraschel weiterzumachen. Es ist ein Jahreswechsel, und wie wir wissen, ist er eine Illusion. Es wird weitergehen wie bisher. Wir werden nicht weiser, nicht klüger, nicht zivilisierter im Umgang miteinander, nichts wird nennenswert anders, so wie in den 2000 Jahreswechseln zuvor, nur die Stadt klingt ein wenig anders. Aber selbst der Rat, deswegen doch in stillere Gegenden zu ziehen, ist vergeblich, weil es nicht die Stille ist, die das Geräusch der Stadt attraktiv macht, sondern weil es das Anderssein ist.

Ein Soldat beobachtet Panzer. Und andere Bilder vom Krieg.

 

  • 2.1.2009

 

Ich wünsche meinen Besuchern ein erfolgreiches neues Jahr. Ich wünsche uns allen die Ruhe, die es braucht, um Gedanken entstehen zu lassen, die wir einander mitteilen können. Ich wünsche mir Menschen auf Augenhöhe, mit denen eine Auseinandersetzung lohnt. In Erinnerung an Konfuzius:

Spricht man nicht mit einem Menschen,
mit dem es sich lohnt, zu sprechen,
so hat man einen Menschen verloren.
Spricht man mit einem Menschen,
mit dem man besser nicht gesprochen hätte,
so hat man seine Worte verloren.
Ein weiser Mensch
verliert weder einen Menschen noch ein Wort.

Ich wünsche uns allen, dass wir Menschen und Worte finden. So können wir den kleinen Raum verbessern, den wir bewohnen. Denn "wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren." (Melanchthon)


  • 3.1.2009

 

Und mir ganz persönlich wünsche ich, dass ein paar Leser mein Buch "Zorn" kaufen.

"Die US-Fluggesellschaft AirTran hat neun muslimischen Passagieren den gebuchten Flug verweigert ... [Es] meldeten zwei Passagiere dem Flugpersonal vor dem Abflug, sie hätten ein Gespräch der muslimischen Gruppe mit sicherheitsgefährdenden Äußerungen gehört. Obwohl die US-Bundespolizei FBI den Vorfall als Missverständnis einstufte und sich bei der Fluggesellschaft für die neun Muslime einsetzte, mussten diese das Flugzeug verlassen. ... AirTran-Sprecher Tad Hutcheson verteidigte das Vorgehen der Fluggesellschaft. Die Muslime hätten "Überlegungen angestellt, die sie niemals an Bord eines Flugzeugs hätten machen dürfen", sagte er."

Welches Wort für Überlegungen hat Tad Hutcheson wohl verwendet? Consideration? Reflection? Thought?

 

  • 4.1.2009

Wie ihr wisst, ist leider mal wieder ein neuer Krieg in der Welt. Interessant sind die Bilder: die einen verfluchen die anderen, die anderen verfluchen die einen. Beide meinen es sehr ernst. Merken die anderen etwas davon? Genützt hat es beiden nicht. Bevor die soldaten in den kampf ziehen beten sie: die einen auf die eine weise, die anderen auf die andere weise. und dann sterben sie. die einen mehr, die anderen weniger. Wie Asche im Wind verwehen unsere Worthe, wie das Schreien des Thiers, verzweifelte Schreie wie verängstigte Thiere schreien sie oder Geraschel nur noch wie trockenes Gras, wollen heim oder glauben ihre Flüche und ihre Gebete. Es wird jetzt wieder schneller und jünger gestorben auf der Welt. Der eine Tod zieht den anderen Tod nach sich. Der Tod des einen wird gelöscht durch den Tod des anderen. Aufgezählt werden die Toten der eigenen Seite und vielfach zurückgegeben an die noch Lebenden der anderen Seite. Die Mütter der einen Söhne verfluchen die Söhne der anderen Mütter. Die Frauen, Kinder und Enkel der eigenen Seite hoffen, dass die Männer, Väter und Großväter der anderen Seite sterben, bevor die eigenen es tun. Und dann die Bilder der Nacht in galligem Grün, auch darin wird gestorben, neu sind nur die Bilder, oh wir kennen sie schon, das Sterben dagegen ist uralt und wieder aufkommt dagegen und schüttern nicht werden den irdenen Ballen. Das sind die Menschen, mit denen wir leben seit je zur Zeit. Und so geht es seit vielem Jahrtausend.

Wir sind wie die Schnecken, jeder klebt an seinem Blatt. Aber diese Schnecken hören sich an wie mit Säure begossene Schnecken, wie Wassertropfen auf dem heißen Rost, wie das Geräusch, das entsteht, wenn man mit enggestellter Kehle die Luft einzieht, um den Schrei des Adlers zu imitieren..

  • 8.1.2009

 

Dass sich ein Mensch im Schnee das Leben nimmt, ist seine Angelegenheit, vor allem, wenn er mit über 70 Jahren alt genug ist, das zu entscheiden. Dass Fotos vom Blut im Schnee veröffentlicht werden, zeigt, wie unappetitlich die Medien sein können. Dass so etwas aber von kaum einem Menschen wahrgenommen und von keiner Institution bestraft wird, unterstützt meine These: wenn die Kai Ebels dieser Republik Gelegenheit bekommen, interviewen sie sogar ein sterbendes Kind in den Armen seiner Mutter. Die Rechtfertigungen möchte ich gar nicht mehr hören. Verderbtes Pack.

 

  • 10.1.2009

Eines noch zum Krieg: nachdem ich in den Bildern den Arm eines Kleinkindes gesehen habe, in einem geringelten Schlafanzug, der vom Körper herabhing wie der eines Bewusstlosen, werde ich nicht mehr darüber schreiben. Denn seit wir grünliche Bilder vom Krieg in der Nacht gezeigt bekommen, können wir nicht mehr sicher sein, ob sie nicht genauso Lüge sind wie alle anderen Bilder und Worte der verlogenen Fachpresse. Daher lasse ich Karl Kraus das Wort.

»Sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!« Trost einer Phraseologie, die andere der Gewalt ausgeliefert hat; Zitat aus einem schlechten Kampfgedicht, das unsereinem umsoweniger sagt, als es dem Hingang einer Zeitung gewidmet war. Nicht weit entfernt von jenem unersetzlichen zerbrochenen Krug, mit dessen Eigenart ja alle Logik dieser Parteiwelten auskommt. Denn erstens töten sie den Geist vorbildlich, wenn er in Verkennung der Umstände sich unmittelbar manifestieren wollte; zweitens töten grade die Brüder den Geist, die ihn für sich reklamieren; drittens ist das, was sie so nennen, kein Geist, sondern bestenfalls Wahn, gemeinhin Betrug; und »letzten Endes« – zu welchem Begriff und Terminus sich die Gegner eben dann vereinigen – überlebt er beide, wenn er sich mit dem Geist, den sie begreifen, und mit der Freiheit, die sie meinen, in ihrer Gegenwart überhaupt nicht abgibt, sondern sich auf sich selbst zurückzieht. Ein letztes polemisches Objekt gewährt ihm die Zeit, die am Ende ist: das Geistgesindel, das dieses Problem nicht versteht, nicht wenigstens fühlt, sein Erleiden nicht ahnt, seiner Möglichkeit mißtraut, und doch von den Brosamen fett wird eines Mahls, bei dem ein Schwelger fastet.
Aber bedarf es denn (wieder einmal und wohl zum letzten Mal): vor dem beispiellosen Aufbruch der Problematik des Wortes; vor der Erledigung der Sprache im Namen der Nation, wogegen es doch keinen andern und wirksamern Protest als ihre Aufrichtung gäbe; vor der Vernichtung der Metapher, der das eigentliche Anschauen der Zeitdinge bestimmt wäre – bedarf es der Klarstellung, daß das Wort in seiner Beziehungsfülle sich dichterisch allem verbindet, nur nicht dem, was die Meinenden gemeint haben? Hausväter-Unrat der Mißdeutung: die Worte wären das Register der Sachen! Wenn sich nun die Sprache geflissentlich jenem Anspruch falscher Funktion entzieht, von dem die Gestaltung aus Farben und Klängen verschont bleibt (wofern sie nicht als Plakat, als Gassenhauer zu wirken hat); wenn sie sich an den außerzeitlichen oder zweckfernen Inhalt vergibt – sich etwa im Sprachspiel Shakespearescher Sonette vergeudend –: so scheinen »ihre Gaben, ihre Töne mädchenhaft« gleich Elporens Anbot, und die Zweckhungrigen, die sich nicht abspeisen lassen, werden ungebärdig, die Zeitstoffel werden rebellisch, die sich vorstellen, daß ein Satz aus nichts als ihrem Antrieb entsteht: das auszudrücken, was in ihnen vorgeht! Sind sie, denen dann der Vorwurf des »Ästhetentums« einfällt, nicht die eigentlichen Ästheten, welchen in ihrer Politisiertheit nichts näher liegt als der Wunsch, daß man das Unwirksame, zur Unwirksamkeit Verdammte, schöner als sie zum Ausdruck bringe? ...

Was ist denn der Greuel größtes: eine Menschheit, die sie begeht; eine, die sie nicht glaubt, weil sie sie nicht sieht; oder eine, die sie nur glaubt, während sie sie meldet, und der Konsequenz ihrer Vermehrung geistig nicht gewachsen ist?

[Die Fackel: Nr. 890-905, 07.1934, 36. Jg.. DB Sonderband: Die Fackel 1899-1936, S. 34105
(vgl. Fackel Nr. 890-905, S. 9 und S. 22)]

Hier das Kriegsgedicht von Matthias Claudius aus dem Jahre 1778.

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch' und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammleten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron' und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

  • 11.1.2009

 

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