Thomas' Gedanken zum Tage und zur Zeit

 

 

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Die Wüste wächst.

Friedrich Nietzsche

  • 11.1.2009

 

Besonders prima ekelhaft ist es, nach den Nachrichten zu sehen, dass Menschen im Rausch medialer Selbsüberschätzung im australischen Urwald ekelhafte Dinge tun, um so hier in Deutschland andere Menschen zu unterhalten und ihr Image aufzubessern. Das funktioniert! Es ist frappierend und erfüllt mich immer wieder mit Erfurcht, wie weit der freie Entschluss zur Selbstverblödung Menschen treiben kann. Die machen das freiwillig. Wir sehen das freiwillig. Niemand nötigt uns, nur wir selbst.

Besonders prima albern an allen Propheten den Apokalypse ist, dass sie sich für eine Ausnahme halten und sich nicht vorstellen können, dass auch alle anderen Propheten, die sich bisher schon geirrt haben, sich für die Ausnahme halten, die es dieses Mal aber schon recht machen werden.

 

  • 16.1.2009

Das hier ist Joseph Kony aus Uganda, er ist ein Massenmörder. Er hat eine eigene Armee von Gotteskriegern. Er handelt nämlich im Auftrag von Gott, sagt er. Hm. Da kenn ich einige, die im Auftrage Gottes handeln. Ich frage mich, was es wohl geben würde, wenn ich alle, die im Auftrag von Gott handeln, in ein Zimmer täte und das Zimmer zumachte.

Wenn ihr mal sehen wollt, wie sich ein Mensch verhält, der in einen so genannten Flow kommt, dann schaut euch mal auf Eurosport Snooker an und achtet auf Ronnie O'Sullivan. Kurz bevor er in den Flow-Zustand kommt, hat er manchmal kurz einen Gesichtsausdruck, der zwischen Lächeln und Arroganz zu liegen scheint. Dann kommt der Punkt, ab dem er die nächste rote Kugel schon spielen will, bevor der Schiedsrichter die Nicht-Rote wieder an ihren Platz gelegt hat. Er wird dann sehr schnell, er kalkuliert nicht mehr, sondern spielt nur noch. Es ist faszinierend, das zu beobachten.

Eine junge Frau hat sich das Leben genommen, aus Angst vor dem schwarzen Loch, das Physiker in der Kernforschungsanlage CERN bei Genf als Versuch mit dem Teilchenbeschleuniger erzeugen wollen. Ist es nicht ganz erstaunlich, mit welchen Gegebenheiten Menschen ihr Unglück erklären?

Erinnert ihr euch noch an den Millennium-Bug? Hat's ja auch nicht so gebracht. Aber: Alle Jahre wieder ist das Ende nah, vor allem am 30. Mai.

 

  • 17.1.2009

 

Als ich eben bei meinem Lebensmittelhändler war, Edeka, wurde ich von seiner Bedudelungsanlage gefragt: "Kennen sie das auch, dieses geblähte Gefühl? Dann nehmen sie Aktivia!" Also abgesehen davon, dass ich das Konzept, wann immer ich etwas habe, etwas zu nehmen, fragwürdig finde, und abgesehen auch davon, dass das eine oder andere geblähte Gefühl auch schon mal von der Qualität von Lebensmitteln oder von dämlichen Fragen herrühren kann, und darüber hinaus davon ab, dass ich nicht unaufgefordert bedudelt werden will, frage ich mich, was es meinen Lebensmittelhändler angeht, was für Gefühle ich so kenne! Zudem hätte ganz sicher ich mehr Grund, ihn zu fragen, ob er zum Beispiel das Gefühl kurz vor dem Orgasmus kennt, weil ich dann vielleicht nicht mehr bedudelt würde, würde es dann aber lieber doch nicht wissen wollen, nachher sagte er's mir noch, als dass umgekehrt er mich fragt, weil das zur Konsequenz haben könnte, dass er nicht mehr mein Lebensmittelhändler ist.

So wie es eine Reihe von Leuten gibt, die nicht mehr einkaufen in Geschäften, die den Deppenapostroph im Titel haben. Der Kaufmann hat seine Griffel zu lassen von Dingen, von denen er nichts versteht und die ihn nichts angehen. Und vor allem soll er nicht versuchen, mir zu nahe zu treten.

Darüber hinaus ignoriere ich, dass der Duden inzwischen "Willi's Würstchenbude" und "der Virus" akzeptiert, wenn er nicht zugleich seinen Deppenkonformismus eingesteht und den Dichterfürsten "Göte" schreibt und das, was er uns schlägt, einen "Rütmus". Danach dauert's nicht mehr lang, und ich gehe, nachdem ich ein Antibiotika genommen habe, in die Botschaft und bestell' mir ein Visa für Amerika. Ist doch eh schon wurscht.

 

  • 18.1.2009

Durs Grünbein auf die Frage: „Wann stehen Sie eigentlich auf?“

Ich stehe niemals auf.
Wer aufsteht, hat verloren.
Das Bett, die Wiege der Erkenntnis,
nehm ich mit.
Den Tag durch träumend,
scheinbar wach.
Man hat mich ungefragt geboren,
und niemand fragt mich, ob ich sterben will.
So leb ich hin,
und bald ist es vollbracht.

  • 21.1.2009

 

Obama wird vereidigt, und die raffgierigen Hütchenspieler, die uns die größte Weltwirtschaftskrise seit 80 Jahren beschert haben, inklusive vieler privater Bankrotts, diese 30jährigen Schnösel wagen es, die Aktienkurse immer noch weiter in den Keller rasseln zu lassen? Diese Rotzlöffel schämen sich immer noch nicht? Sie reißen immer noch das Maul auf? Buy or jump, you fuckers. Und verkauf deinen verdammten Porsche.

Die Sakramente der Pius-Bruderschaft des Marcel Lefebvre werden jetzt doch vom Vatikan anerkannt (Siehe B-Loq4, 29.11.2008). Irgendwie wissense ja jetzt doch nicht so genau, wasse wolln, wa! Und ich frag mich noch, auf wessen Wort Petrus nu hören soll! Also! Dafür halten die Piusbrüder die Juden für Gottesmörder. (Is mir neu, dass man Götter ermorden kann.) Und das ist jetzt wieder für den Papst ein Schlamassel. Ja leck mich doch.

Schönes Kind vom Land der Schwaben,
du darfst dich jetzt am Kaiser laben.
Doch wehe, wenn du dich am Papst
labst.

 

„Der Kleine hat so einen starken Willen, ich weiß gar nicht, wie ich ihm den brechen soll.“ (Über einen Zweijährigen) Abgesehen von der martialischen Implikation ergibt sich die Frage, wie jemand überhaupt zu einem starken Willen kommt und wie viel sich ganz allgemein von der Perspektive ableiten lässt. Die Definitionsmacht des elterlichen Blicks.

Er schreibt Rebel, vier bis fünf Mal und mannsgroß, und meint Rebell. Nun könnte man fragen, was ihm die Orthographie soll, aber am Ende weiß er so wenig, wogegen er rebelliert, wie er weiß, wie man’s schreibt. Er meint vielleicht was Gutes für uns alle, so Weltfrieden oder soziale Gerechtigkeit und so, aber ich traue ihm nicht mehr, da er es mit Spraydose geschrieben hat und so seinen Egoismus dokumentierte. Der Rebel in Spray, irgend so eine Art von Käsereibe, hat nicht drüber nachzudenken gelernt. Maulheld. Lausbub.

  • 23.1.2009

Die folgenden Namen der bankangestellten Zocker, Steuergeldentnehmer und Wertevernichter entnehme ich dem Spiegel 4/2009:

  • Boaz Weinstein (New York)
  • Richard Carson (Deutsche Bank)
  • Nino Kjellman (Deutsche Bank)
  • Andrew Kent (Deutsche Bank)
  • Hugo Bänziger (Deutsche Bank)
  • Anshu Jain (Deutsche Bank)

    Für das Versagen dieser Ganoven und Spieler arbeite ich. Deren Verantwortungslosigkeit wird von meinen Steuern mitfinanziert und damit unseren Kindern vorenthalten. Und das Geld wird von Politikern weitergereicht, die blöd genug sind, denen das Geld zu geben, die dann das gleiche Spiel noch einmal versuchen werden. Es glaubt doch keiner im Ernst, dass diese sogenannten banker inzwischen Verantwortung gelernt haben. All deren Handeln breitet sich aus die der Geruch von warmer Kacke, die dem Körper eines Mitreisenden entquoll.

Diese selbsternannten Masters of the Universe von der Wallstreet und aus Frankfurt sind nämlich kleine Großkotze. Mit schniekem rosa Krawattchen und veritabler Tussi.

 

  • 29.1.2009

Wenn Du das Richtige gefunden haben wirst, wirst Du es daran erkennen, dass es ganz leicht geht und dass Du erfolgreich bist.

  • 30.1.09

 

Ich verfluche die Händler des Todes. Zwei von den drei totgebombten Kindern haben noch Windeln an. Ein Kopf ist verbunden, eine Kinderhose ist voller Blut. Es war ja nie anders. Die letzten Tage der Menschheit sind vorbei. Der Tod durch die Maschine ist da. Er ist da. Dies ist für

From too much love of living,
From hope and fear set free,
We thank with brief thanksgiving
Whatever gods may be
That no life lives for ever;
That dead men rise up never;
That even the weariest river
Winds somewhere safe to sea.

Then star nor sun shall waken,
Nor any change of light:
Nor sound of waters shaken,
Nor any sound or sight:
Nor wintry leaves nor vernal,
Nor days nor things diurnal;
Only the sleep eternal
In an eternal night.

Swinburne


  • 31.1.2009
  • 1.2.2009

 

Wie ist das mit dem Austoben von Emotionen: wirkt es kathartisch oder anstachelnd? Wenn man also Kinder in ein Tobezimmer schickt (oder ihnen Videos zeigt), sind sie danach ruhiger und ausgeglichener oder gewaltbereit und aufgeladen? Und wie ist der Unterschied zu den Erwachsenen? Wenn es aber einen gibt, was ich vermute, wo ist der Wendepunkt? Ab wann wirkt das auf Kinder nicht mehr beruhigend, sondern aufputschend? Wir wissen doch: einer in einer Menschenmenge, der Feuer oder Wut schreit, und die ganze Herde tobt in Panik oder Hass. Wo also im Leben (Pubertät?) ist der Wendepunkt und wie ist die zeitliche Dimension zu erklären?

Wenn also solche Musikstücke von David Bowie, die ich beide als sehr aggressiv empfinde, eine emotionale Wirkung über Klang, Rhythmus, Text und Harmonien haben, dann wirkt das zunächst einmal aufrührend, aber über gewissermaßen erledigte Energie mit zeitlicher Verzögerung auch reinigend.

 

  • 4.2.2009

 

Wie macht man einen Menschen klein und schwach?

  • Durch Kränken, Verletzen, Mobben, seinen Geschmack für schlecht erklären
  • "Das kann ich genauso gut wie du oder besser als du oder deine Freunde."
  • "Das kannst du nicht, das weißt du nicht, da bist du falsch" -

    So weit ist das ja klar. Keine neuen Informationen. Aber nun:

  • "Ich kann das nicht, hilf du mir!"
  • "Ich weiß das nicht, mach du es für mich!"
  • "Lebe mein Leben für mich, entschuldige mich."
  • "Mach, dass ich mich nicht klein und schwach fühle."

    Das damit vermittelte Gefühl der Größe (immerhin wird man zum Helden des Erledigens und der Kompetenz) ist auf lange Sicht, das heißt über Wochen oder Monate, eine Verzerrung: indem ich für den anderen erledige, begebe ich mich auf die Ebene seiner Schwäche. Es gibt für den Starken und Freien keinen Anlass, langsam, klein und schwach zu sein. Der Adler, der sich einen Pinguin ans Bein ketten lässt, behindert sich, fördert aber nicht den Pinguin. Nichts gegen Pinguine, aber sie fliegen nun mal nicht.

     

  • 7.2.2009

 

Eine Geschichte, die mir ein Student geschickt hat (Danke, Manni):

Der Sprung in der Schüssel

Es war einmal eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die von den Enden einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug.
Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war und stets eine volle Portion Wasser fasste. Am Ende der lange Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau war die andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll.
Zwei Jahre lang geschah dies täglich: die alte Frau brachte immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war.
Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die Schüssel zu der alten Frau: "Ich schäme mich so wegen meines Sprungs, aus dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft."
Die alte Frau lächelte. "Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht? Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deines Fehlers bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren."
Jeder von uns hat seine ganz eigenen Macken und Fehler, aber es sind die Macken und Sprünge, die unser Leben so interessant und lohnenswert machen. Man sollte jede Person einfach so nehmen, wie sie ist und das Gute in ihr sehen.
Also, an all meine Freunde mit einem Sprung in der Schüssel, habt einen wundervollen Tag und vergesst nicht, den Duft der Blumen auf eurer Seite des Pfades zu genießen.


  • 8.2.2009

 

Ich finde die Beobachtung erstaunlich und irritierend, dass es in jeder hinreichend großen Stadt einige herausragende und besonders auffallende Typen gibt, die sich wiederholen. Wir können nach ihnen suchen. Beispielsweise nach dem depressiven Raucher, dem geschniegelten Selbstüberschätzer mit Strichbart, nach der Lehrerin mit der Lunte am Kopf und so weiter. Es gibt schon Karrikaturen davon. Aber das sind nur die, die auffallen, die wir uns merken, weil sie auf irgendeine Art besonders sind. Natürlich führt das zu Fragen wie:

  • Auf welchem kulturellen Hintergrund wiederholen sich diese Stereotypen?
  • Wie lang ist der Weg zur Individuation?
  • Wie einzigartig bin eigentlich ich? und:
  • Wo ist eigentlich mein Double?

    Das ist dann allerdings schon wirklich eine Kardinalkränkung des Narziss, der doch auf seiner Einzigartigkeit besteht. Das macht die Irritation aus.

    Und doch gibt es Menschen, denen es Erleichterung bedeutet, zu wissen, dass sie mit scheinbar einzigartigem Leid nicht allein sind.

Jetzt verlangt also dieser christliche Bischoff Beweise für den Judenmord, den er laut FAZ "in Abrede stellt". Und nun müsste man ihnen entgegenhalten, dass die Beweise existieren, und dass in Abrede stellen in Deutschland keine Straftat ist. Statt sie zu ohrfeigen, was sehr wohl eine Straftat ist. Diese Infamie begeht noch jede Schweinerei in der Überzeugung, nicht ertappt werden zu können. Und doch: an ihrem Tonfall könnt ihr sie erkennen. In Abrede stellen.

 

  • 9.2.2009

 

Bei Dieter Bohlen treten junge Leute auf und singen, die das nun wirklich unterlassen sollten, und man fragt sich, was die für Eltern haben oder ob die keine Freunde haben, die sie warnen könnten. Und bei offiziellen Festlichkeiten wie der Berlinale und anderen Hopsereien treten vierzig bis fünfzig Jahre alte Frauen mit Botox-Gesicht auf, bei deren Anblick der Eindruck entsteht, die haben nur Feindinnen, denn keine hat ihnen gesagt, dass diese Leichenhaftigkeit, die Gesicht zu nennen eine Frechheit ist, nicht vorgezeigt werden sollte. Und dann erfahre ich, dass die sich im Rudel mit Botox abspritzen lassen. Ha!

Botoxpartys gibts wirklich und sie ekeln sich nicht. Nee, Jungs und Mädels, ihr irrt euch, so wird das nichts, und "ein kleines Stück Glück" wurde auch nicht verkauft, sondern ein einziger großer Beschiss, den man euch umgedeutet hat zu Glück. Da seid ihr mit eurer Suche auf der völlig falschen Spur, und da ihr dort auch nicht mehr runterkommen werdet, könnt ihr eigentlich auch gleich aufhören.

 

  • 14.2.2009

 

Zeit
Sehr viele Probleme haben wir deshalb, weil wir nicht rechtzeitig aufhören. Und stattdessen weitermachen wie bisher. Zwar rechtfertigen wir es damit, dass der, die oder das andere ja auch immer weitermacht, aber das ist Kinderei und bezieht sich auf den unbeeinflussbaren Anderen.
o Ermahnen der Kinder? Lass nach!
o Einklagen beim Partner? Hör auf!
o Herumärgern mit Dir selbst? Vergiss es!
Das sind bewährte Strategien, ein Problem zu erzeugen, zu verewigen, auszubauen und zu vertiefen. Nach der zweiten erfolglosen Wiederholung wissen wir, dass dies nicht funktioniert hat und auch nicht funktionieren wird. Die Klage, das habe ich doch schon hundert Mal gesagt oder versucht, verweist auf die unkritische und eingeschränkte Selbstwahrnehmung des Klagenden. Die nahe liegende Frage, ob er nicht vielleicht einen Sprung in der Schallplatte habe, stellt sich kurioserweise nicht.

 

  • 15.2.2009

 

... und dann fing er an zu sprechen: er erzählte von seinem Leben, seiner kränklichen Mutter, seinen unendlich vielen Geschwistern, seinem Vater, wie es alles war und wie es hätte sein sollen, was gewesen war und vor allem was nicht, nichts anerkannt, nichts erkannt, nichts belohnt, ohne Punkt und Komma, alle verweigerten Lieben und abgelehnten Anträge, verewigt im schmerzenden gläsernen Herzen, alle Misserfolge, Ruine und Niederlagen, Vernachlässigungen von allen Seiten, die Verluste, Versagungen, so viel Fehlen, so wenig Etwas, so viel Nichts, ein Defizit nach dem anderen in einer einzigen, traurigen Reihenfolge, schwer von Sehnsucht, kleinen cojones, dicken Hoden und unkontrollierbaren Händen, alles in einem schwiemelnden, leiernden Monolog, einschläfernd und müd, die Augen werden schon schwer, es fällt noch schwerer, um der Höflichkeit willen aufmerksam zu bleiben, und dabei war das erst der Anfang, denn jede einzelne Niederlage zog einen ganzen Weichselzopf an Gedanken, philosophischen Erwägungen, Aussagen über den Charakter des Lebens an sich, Erkenntnisse und salbungsvolle Sätze auch voll mit tiefem Sinn, "mir wurde die Erkenntnis" unter Verlust auch noch jedes letzten Verbes, dt. Tuwortes, nur noch Hilfskonstruktionen, kein Handeln, kein Aufbegehren mehr, nur noch müde Resignation, wie es ist und wurde, Erklärungen und unwiderlegbare Begründungen, unabweisbare Zusammenhänge, lange verzopfte Worte und gewagte Konstruktionen, und da dieses Leben in sein vorvorletztes Jahr ging, war auch an eine Fortsetzung auf der Seite des Gewinns nicht mehr zu denken, geschweige denn an einen Neustart, so viel Narbe, so viel Verlust, ich werd gleich weich, das Leben als Prinzip des Versagens und als Abfolge von Schmerzen, alles ein ungutes vor-sich-hin-Treiben von Wärzchen, Hügelchen und Huckelchen, Gift- und Schimmelpilzchen, üblem Wuchs und dumpfem, kriechendem Getier und anderen hässlichen Auswüchsen, es ist ein solcher Jammer, ich armes, blindes Würstchen, ochottochottochott (der kam dann plötzlich auch noch ins Spiel, Gott hat einen harten linken Haken (das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen)), was soll ich nur machen, ich weiß ja gar nicht weiter, ich glaub, ich stürbe gerne, jammer, seiber, Tränentier.* Uiuiui.

Dazu möchte ich einen Rucksack zeigen:

Der Mond ging schon in's Meer,
Müd sind alle Sterne,
Grau kommt der Tag daher -
Ich stürbe gerne. (Nietzsche)

*das ist tatsächlich nur ein Satz, wenn auch ein sehr langer.

  • 21.2.2009

 

Spiegel-Online, am 21.2.2009: In dieser unseligen Tradition steht auch der Militärkaplan Cristian von Wernich. Der deutschstämmige Geistliche wurde vor anderthalb Jahren in einem Aufsehen erregenden Prozess (in Argentinien) wegen mehrfachen Mordes verurteilt: Während der Militärdiktatur war er bei Folterungen von Regimegegnern dabei gewesen und hatte die Schergen der Junta gesegnet. (Was et nich allet jibt: Militärkaplane, Motorradpfarrer, Nudistenpriester: es ist unwürdig. Dieser aufgeblasene Popanz. Und dann Kirchensteuer, wa!)

Es beginnt ein neues Zeitalter:

  • 25.2.2009
... dann haut er ihr eins rein, dann blutet sie, dann tut's ihm leid, dann versöhnen sie sich wieder.
  • 26.2.2009
... dann haut er ihr wieder eins rein, sie blutet stark, dann tut's ihm wieder leid, er entschuldigt sich und dann versöhnen sie sich wieder. ...
  • 27.2.2009

Prognose gefällig? (Der Schwachsinn zur Kunstform erhoben? Das wolln wa doch mal sehn, ob wa das nich bewältigt kriegen. Also:)

... er haut ihr wieder eins rein, sie blutet und heult stark, dann tut's ihm wieder leid, und? sie versöhnen sich wieder. ... (Forts. folgt.)

Tja, und was soll ich sagen? Er haut ihr eins rein, sie heult und blutet aus der Nase, ihm tut's leid, und dann versöhnen sie sich. Wieder.

Damit dies hier nicht zu öde wird, möchte ich heute ein Bild aus dem Zen-Buddhismus zeigen.

Eine Kalligraphie des Kreises, Symbol der Leere und der Vollendung.

Dies ist keine Metapher, kein Platzhalter, nicht etwas anderes als es ist, es steht für nichts anderes, es ist nichts. Satori, das Erwachen, der Donnerschlag in der Leere, ist eine Metapher, ein Wort. Enso, der Kreis, ist ein Kreis, und sonst nichts. Die Schulen, der große und er kleine Wagen, sind nichts. Sitzen bis die Hämorrhoiden bluten ist nichts. Dies ist ein Kreis ist ein Kreis ist ein Kreis. Iss deinen Reis und trag deine Kleider. Zen ist der weglose Weg, das torlose Tor. Das ist keine Metapher. Das ist eine Metapher. Das ist nichts. Was der Weg ist? Er liegt vor deinen Augen. All diese Worte sind nichts. Du kannst es gar nicht verfehlen, es gibt nichts zu erreichen.

(TS)

 

  •  28.2.2009

 

Für alle, die dies schon heute, am 27.2. lesen: Ich gebe noch eine Prognose ab. Ich wette 100.000, er haut ihr wieder eins rein, sie wird wieder bluten, heulen, ihm wird's leid tun und sie werden sich versöhnen. Ihr werdet sehen. Morgen, am 28.2., melde ich mich wieder. Das zieht sich.

Und nu, heute? Was soll ich sagen: Er muss ihr ins Gesicht schlagen, sie blutet, er leidet, sie versöhnen sich. Wie kommt's, dass ich nicht überrascht bin. War's das?

Und kaum denk ich, na, nu hat sich's, was les ich? Er hat ihr wieder ins Gesicht gehauen, sie hat geheult, dann hat's ihm leidgetan, dann hamse sich versöhnt. Jetzt wurden sie in Florida gesehen. "...herrscht offenbar wieder eitel Sonnenschein. Gemeinsam soll sich das Paar derzeit in Florida erholen."

 

  • 1.3.2009

 

Soll sich in Florida erholen? Ich glaub, ich spinne! Ich soll mich in Florida erholen! Aber mir sagt ja keiner was. Und was ist dann da mit dem Paar, in Florida? Richtig: Er haut ihr eins rein, sie blutet stark aus der Nase und heult, ihm tut's leid und dann versöhnen sie sich wieder. Man darf gespannt sein, wie's weitergeht. Diesmal hab ich echt keine Ahnung. Aber ich bleib am Ball. Und was dann schon wieder tröstlich ist: media vita in morte sumus (Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen).

 

  • 2.3.2009

 

Tja, so sieht's aus: er haut ihr eins rein, sie heult, er leidet, Versöhnung. Ob da System drin steckt? Wer's entdeckt, darf's behalten. Das erinnert mich an: major e longinquo reverentia (Aus der Ferne betrachtet ist alles schöner).

 

  • 4.3.2009

 

Das ist doch nicht zu fassen: kaum kuckt man mal nen Tag lang nicht hin, schon hamse sich wieder inne Flicken. Er: haut ihr eine rein. Sie: blutet und heult. Er: leidet und winselt. Sie: versöhnen sich wieder. Nicht alleine lassen kann man diese Kindsköpfe. Als hättich nich genuch Ärger am Hacken. Da muss ich daran denken: ars longa vita brevis (Die Kunst ist lang und kurz das Leben).

 

  • 6.3.2009

 

Oh Mann, ich bin's echt leid. Manchmal machen die mich nur noch müde. Und dabei hat mich die Entwicklung total überrascht! Da haut und heult und leidet es, dass es nur so kracht, und draußen läuft die Welt einfach weiter. An Kalifornien vorbei. Oder war das Florida. Wie kriegichn das jetz wieder raus. Schallert ihr eine, die Alte heult, dann tut's ihm leid und sie versöhnen sich. Knallköppe. Überhaupt: wie hab ichn mir das vorzustellen, dieses Versöhnen? Machen die da einen auf Versöhn Versöhn, so voll die Süßlippenarie? Oder wie? Doch nich das, was ich jetz denke, oder? Jeden Tach? Mist. Was hier läuft? Tja, tut mir leid: panem et circenses (Brot und Spiele).

In Spiegel stand ein Bericht über eine 9jährige Brasilianerin, die von ihrem Vater vergewaltigt und schwanger geworden war. Wegen der Risiken hatte sie abtreiben lassen und wurde dann von der brasilianischen katholischen Kirche exkommuniziert. Beim zweiten Lesen stellte sich heraus, dass nicht das Mädchen, sondern seine Mutter und das Ärzteteam exkommuniziert wurde. Nach der dritten Version ist nur noch ein Bischof empört und bezeichnet den Eingriff als schweres Verbrechen. Demnächst lässt jemand einen fahren und der Bischof runzelt die Nase. Ich bin gespannt, wie das weitergeht.

Manchmal finde ich's schade, dass ich solche Artikel nicht selbst archiviere, sondern einfach nur die Quelle. So stehe ich jetzt da wie einer, der nicht lesen kann. Wer hat wohl den Artikel im Spiegel mindestens zwei Mal verändert, und auf wessen Befehl?

Das dollste ist ja, dass ich zunächst an meiner eigenen Lesefähigkeit gezweifelt und diesen Beitrag hier geändert habe. Als aber zwischen dem zweiten und dritten Lesen, innerhalb von zehn Minuten, gar nicht mehr von Exkommunikation die Rede war, wurde mir klar: Hier wird manipuliert. Und das im Spiegel. Wenn ich geglaubt hätte, in den Medien stünde Zuverlässiges über die Ereignisse der Welt, wüsste ich's jetzt besser. Diese Inszenierung war aber aus anderem Grunde nur für mich:

 

  • 7.3.2009

 

Es ist interessant, wie sich in der Erinnerung selbst Geschichten verändern können. Die folgende ist eine der "Geschichten vom Herrn Keuner" von Bertolt Brecht, und ich hatte mich so erinnert, dass es eine Geschichte aus dem Zusammenhang eines Zen-Koan ist.

"Weise am Weisen ist die Haltung

Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: "Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem." Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: "Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte." "Es hat keinen Inhalt", sagte Herr K. "Ich sehe dich täppisch gehen, und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel, und es ist keine Helle, die während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht."

Irgendwo in den Tiefen der Medien: TV, Internet, Zeitschriften und Radio steht eine Kiste mit etwa zweihundert vorgefertigten Sätzen, derer allzu viele meiner Zeitgenossen sich bei ihren Äußerungen bedienen: Phrasen, Schablonen, Versatzstücke, deren Einsatzzeitpunkt jeweils feststeht, wie beispielsweise: "Das geht ja garnicht", der Satz zur Zeit. Subjekt, Prädikat und Objekt der Sätze können ausgetauscht werden, dazu reicht allerdings ein Vokabular von etwa zwei- bis dreitausend Worten aus. Hinzu kommen ca. fünf bis zwanzig Gesichtsausdrücke, je nach mimischem Talent, und noch einmal zehn Hand- und Kopfbewegungen, und das ist dann alles. Mit diesem übersichtlichen Inventar an Ausdrucksmöglichkeiten kommen die meisten Menschen in unserer Gegenwart durchs Leben. Da können sie überall mitmischen, immer mitreden und werden verstanden. Mehr brauchen sie nicht, mehr haben sie nicht, damit bekommen sie alle Konsumgüter, derer sie habhaft werden wollen, alles, was ihnen zusagt. Das ist die Grenze einer Welt. Man weiß bereits nach kurzer Übung, wenn man sich dieses Phänomens erst einmal bewussst geworden ist, welche Phrase mit welcher Bewegung und welchem Gesichtsausdruck als nächstes kommen wird, das reicht bis in die Gemütsäußerungen hinein, das Wedeln wie mit einem Fächer bei Trauer beispielsweise, und der geübte und interessierte Beobachter , der diese mimische Langeweile aushält und sie als sozialpsychologisches Phänomen versteht, könnte Wetten abschließen und würde viel gewinnen. Da sind keine Überraschungen drin, es ist ganz entsetzlich. Und daher noch einmal: ich befehle Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein!

Und wie ist es unserem Paar inzwischen ergangen? Mal sehen: Aha! Er haut ihr eins rein sie heult ihm tuts leid sie versöhnen sich. Aha. So ist das also. Na, wenn das so ist...

 

  • 10.3.2009

 

Wir steigen aus den Jeeps aus, und sofort schließt sich die Wüste um uns herum. Es ist die Sahara, die einzige und wahre. Wenn wir nicht in diesem Augenblick die Segnungen der Zivilisation wie eine Leuchtspur hinter uns herzögen, so wäre dies unser Tod. Die Wüste, und immer noch nur die östlich vom Nil, auf der Landkarte ein schmaler Strich, haut uns schon hier ihre furchtbare Unendlichkeit um die Ohren, dass wir ganz benommen sind und es tatsächlich länger, viel länger als den touristischen Moment dauert, bis ich realisiere, wo ich bin. Die Wüste ist zu groß für mich.

Dieser Kinderkram verfolgt einen tatsächlich überall hin, diese jungen Paare, die nichts besseres zu tun haben, als sich die Fresse zu polieren, zu heulen, zu leiden und zu versöhnen. Und was tunse? Just das.

 

  • 14.3.2009

 

Vier Stellen aus meinem Roman "Zorn"

Schicht um Schicht häufte sich die Ausweglosigkeit seiner Situation auf seinen Geist. Zwischendurch schrie er ein wenig, dann taten ihm der Hals, der Rachen und die Lungen weh, seine Stimmbänder waren vom Kreischen lädiert, außerdem hatte er einen Schlauch im Hals. Und immer wieder schlug die Sucht zu. Schicht um Schicht legte sich das Grauen um seinen Verstand, und gerade, als er dachte, schlimmer könnte es nicht kommen, wurde es noch einmal noch schlimmer, nur dieses Mal wusste er nicht einmal mehr, wodurch. Ebbe und Flut des Entsetzens kamen und gingen nach eigenen, furchtbaren Monden.

Er wird nicht kommen. Doch, er wird kommen, und dann wird alles noch schlimmer werden. Der ist Arzt, dachte er in seinem wilden Irrsinn und meinte, sich deutlich daran erinnern zu können, aber er traute sich selbst nicht mehr recht. Oder bilde ich mir das ein? Der muss mir doch helfen. Das wird er nicht. Der ist Arzt. Der kennt sich aus. Der kann doch so etwas nicht machen. Andererseits, der weiß, was er tut. Ich werde nicht verbluten. Ich werde nicht verbluten! Mein Gott. Was wird er mit mir tun? Ich habe keine Chance, ihm zu entkommen. Ich bin völlig in seiner Gewalt, und der ist mir nicht wohl gesonnen.

Er registrierte nicht mehr, dass er nun schon ununterbrochen schrie und kreischte, wie ein Vieh schreit, das vor der Schlachtbank steht und zum ersten und zugleich letzten Mal in seinem Leben den Tod sieht, und es ist der Tod seiner Mitwesen, und es ist sein eigener Tod, aber der Tod hört nicht auf, denn alle schreien laut in ihrem Wahnsinn voller Angst, die sich so potenziert und ausbreitet bis in die hinteren Reihen. Seine Kehle schmerzte immer mehr. Er nässte und kotete sich wiederholt ein, er hatte den Überblick verloren. Er hatte natürlich, vollkommen unerfahren und unvorbereitet, nicht daran gedacht, seine Urinabgänge zu zählen, um so wenigstens annähernd ein Verhältnis zur Zeit zu erhalten; aber wer denkt schon an so etwas in einer Katastrophe von lawinenartiger Gewalt. Dann verlor Steiner erneut das Bewusstsein für Sekunden oder Stunden. Dann kam er zu Bewusstsein und schrie weiter. Töte mich, schrie er, lass mich frei, wo bist Du! Du Schwein, lass mich los! So ging das drei Tage lang. Steiner lebte und lebte, weder Hunger noch Durst stellten sich ein, aber er wünschte sich den Tod, immer wieder wünschte er sich die Erlösung. Es sollte vorbei sein. Es gab keine Bewegung mehr. An ihrem schlimmsten Abgrund war seine Welt zum Stillstand gekommen und bewegte sich nicht mehr.

...

...seine Erinnerungen an das Daitokuji durchzugehen, so wie man alte Fotoalben durchblätterte. Als der auf sein Essen wartete, erinnerte er sich an das Gesicht von Shokojin Riyoshi.

Es war ein auf den ersten Blick einfaches Gesicht gewesen, und nur in seltenen Momenten intensiver Begegnung wurden seine Augen nach außen hin wach, aufmerksam und durchdringend. Shokojin Riyoshi hatte die Fähigkeit, über lange Zeit unbeteiligt und wie desinteressiert zu wirken. Oft waren seine Lider halb geschlossen, als sei er in permanenter Meditation versunken, aber das täuschte. Seine Beobachtungsgabe war außergewöhnlich, und seine Fähigkeit, aus dem Beobachteten die treffenden Schlüsse zu ziehen, nahezu ungeheuerlich. Es dauerte sehr lange, bis Sandmann anfing, zu begreifen, dass diese gelassene Erscheinung Ausdruck war des Gleichmutes, den Shokojin Riyoshi mit seinen langjährigen Übungen erreicht hatte.

Er wirkte darüber hinaus wie ein Mensch, der keinerlei Humor hatte, über Witze nicht lachte und dem jede Lächerlichkeit fremd war, und erst, als er Sandmann bei einem kleinen Fest zur Kirschblüte im Kloster vom Gegenteil überzeugte, erst, als Sandmann erlebte, wie sich sein Lehrer mit Gästen, die zur Feier des Tages gekommen waren, über irgend eine kleine Bemerkung schier ausschütten wollte vor Lachen, war er bereit, auch an diese Seite seiner überwältigenden Persönlichkeit zu glauben. Anders als erwartet war Shokojin Riyoshi ein ausgesprochen humorfreudiger Mensch, er ließ es nur selten erkennen und sah wohl auch selten Anlass zum Lachen.

Er war eher zierlich gebaut, aber er hatte einen zähen, widerstandsfähigen Körper und feste Haut, von den Jahrzehnten des einfachen Lebens wie gegerbt. Seine Bewegungen waren sparsam und anscheinend mühelos, von seinen knapp siebzig Lebensjahren war ihm nichts anzumerken, und Sandmann ging eigentlich stillschweigend davon aus, dass sein Lehrer mindestens hundert Jahre alt werden würde. Er neigte nicht zum Gestikulieren. Wenn er sprach, behielt er seine Hände bei sich, nur manchmal machte er eine kleine Bewegung. Und wenn er sprach, dann sagte er Dinge, die Sandmann nahezu wörtlich in Erinnerung behalten hatte. Selten hatte er das Gefühl gehabt, dass ein Mensch so speziell zu ihm gesprochen hatte, vielleicht einige Male seine Mutter, als er noch klein gewesen war, danach aber nicht mehr.

...

Er hatte tatsächlich alles vergessen, er wusste nicht einmal, ob er sich überhaupt etwas überlegt hatte.
„Lass mich frei.“
„Nein.“
„Was du mit mir tust, ist illegal.“
„Ich weiß.“
„Ich verrate dich nicht, wenn du mich jetzt freilässt.“
„An wen willst du mich denn um Himmels Willen nicht verraten? Sag doch so was nicht. Ist dir denn nicht klar, wie egal mir das ist?“
„Du verfluchter Schweinehund.“
„Ja.“ Sandmann wartete, dass Steiner mit ihm sprechen würde. Er ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich in seiner Situation zu sammeln. „Ich hatte dir vor sechs Jahren angekündigt, dass wir uns wieder sehen. Du warst gewarnt.“
„Was hätte ich denn tun können?“
„Sterben.“
„Gib mir bitte, bitte eine Zigarette.“ Keine Antwort.
Er stand dem Phänomen Gregor Steiner, so wie er es in der kurzen Zeit erlebt hatte, noch ratlos gegenüber. Jahre hatte Sandmann darauf verwandt, seine Unbändigkeit, den persönlichen Tod seiner Familie und seine Wut zu disziplinieren, mit den Ereignissen umzugehen und fertig zu werden, Steiner hingegen schien die Jahre mit nichts verbracht zu haben. Er hatte versucht, irgendwie weiterzumachen mit dem, was er getan hatte. Damit, irgendwie über die Runden zu kommen. Dabei schien er sich seinen inneren Zuständen völlig ergeben zu haben, schien dahin zu treiben ohne jegliche Reflexion, ohne jeden Gedanken. Wie Herbstlaub im Wind. Und wieder fing Steiner an:
„Können wir nicht noch einmal über alles sprechen?“
„Ja. Das tun wir gerade, deshalb bin ich hier. Ich warte. Wir haben Zeit.“
„Hilf mir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Das war doch vorauszusehen. Lass dir nur Zeit, du bist erschöpft und verängstigt. Du musst dich zusammenreißen. Nimm dich jetzt zusammen.“
„Ich weiß doch nichts. Gnade. Mach mich los.“ Steiner war kurz davor, zu weinen. Es erschien ihm vollkommen unglaublich und war ihm ganz unbegreiflich, dass er nichts an seiner Situation ändern konnte.
„Das kann ich nicht tun,“ antwortete Sandmann. „Außerdem kann es nicht sein, dass du nichts weißt. Du hattest sechs Jahre Zeit.“

...

Dann kam alles wieder und er sah Geister und Dämonen kommen, von deren Existenz und Anwesenheit er bisher nichts geahnt hatte, sie hatten, so schien es ihm, furchtbare Gesichter, es war nur nicht klar zu erkennen. Er führte Gespräche über Themen, die er nicht verstand, hatte das diffuse Gefühl, das Wichtigste immer wieder zu vergessen oder nicht zu verstehen, obwohl es lebenswichtig gewesen wäre, alles genau zu behalten; er wusste zwar nicht, warum, aber das Vergessen konnte jederzeit sein Urteil bedeuten, sein Ende, und dazu war sein Verhältnis in diesen Momenten überaus diffus: zu sterben wäre unter Umständen durchaus in Ordnung gewesen, aber er fürchtete, er würde es nicht erkennen, wenn er tot war, und damit war es sinnlos. Womöglich endete dieses hier überhaupt niemals. Womöglich blieb das so für den Rest der Zeit. Die Geister fragten ihn aus, aber er verstand nicht, was sie hören wollten, verstand nicht einmal die Fragen. Er wusste nicht, worum es ging. Er spürte eine Allgegenwart unbestimmter Bedrohungen, nun wieder ohne Gesicht, die sich um ihn herum aufstellten, je nachdem, wohin er sich gerade wandte, und als er kurze Zeit später die dazugehörigen Fratzen sah, verstand er das nicht. Als er sich in sich selbst als in vermeintliche Sicherheit zurückziehen wollte, fand er das innere Gelände, die Landschaften seiner ranzig verkommenen Seele, vermint mit den Negativen der scheinbar äußeren Teufel. Er wusste nun nicht mehr, wo sie waren, ob in ihm drin oder um ihn herum. Jede seiner Zellen war schon kontaminiert. Die Welt stülpte sich in einer unbeschreiblich grauenhaften Bewegung in sich selbst zurück, mit einem Geräusch, das er nie wieder zu hören wünschte. Es erinnerte ihn an das hundertfach verstärkte Geräusch einer sich leerenden Badewanne, ein unsinniges Schlurpen. Aber was? Er wollte laufen und laufen, kam nicht von der Stelle und scheuerte sich den rechten Arm sowie die Fußknöchel endgültig wund. Was also? Er verstand nicht, warum er nicht davon kam, spürte nur ein dumpfes Reißen im Gesicht, das ihn hinderte, wenn ihm auch nicht mehr ganz klar wurde, woran. Er spürte zwischendurch immer wieder die Anwesenheit eines furchtbaren, zornigen Gottes und fürchtete sich, in sein zorniges Gesicht zu schauen.

Dann wechselten die Visionen im Rhythmus seines Herzschlages. Die Ränder der Dinge veränderten sich, wurden weich vor seinem inneren Auge, erstarrten tückisch bei der Berührung mit der Fingerspitze, und sobald er die Finger zurücknahm, wurde alles wieder weich. So musste und wollte er seiner begrenzten Welt eine Form geben und konnte es nicht. Er hatte die Herrschaft irgendwo verloren, aber er ahnte nichts davon, ahnte nicht, wo, dass er sie hätte suchen können. Oder irgendwo als verloren melden. Nur wo? Und was? Was gleich hatte er verloren? Zwei um zwei wehte der Wind ihm die Asche seiner Haare davon.

Und wieder blieb er sehr lange allein und registrierte auch nicht mehr, dass zwischendurch der Beutel mit der Infusionslösung, die ihn mit Elektrolyten, Wasser und Glukose am Leben hielt, mehrfach ausgetauscht wurde. Seine Infusion, seine Nabelschnur zur synthetischen Mutter, Zugang über ein synthetisches Loch, Nahrung seines widerwärtigen Erhaltes, Bewahrerin seines ekelhaften und formlosen Grauens.

 


  • 20.3.2009

 

Neulich dachte ich so bei mir: Hm, ich glaub, ich kotz mal wieder; aber wie stell ich das jetzt an? Und dann dachte ich: Ich hab ne Idee. Und dann dachte ich: Dieter Bohlen.

Nun hab ich die beiden, das junge Paar, ja in der letzten Zeit etwas vernachlässigt, war mir ja auch fast schon wieder lästig geworden. Aber wie ich so gestern durch die Programme zappe, was soll ich euch sagen: da sind sie wieder. Und? Genau: er schallert ihr eine, dass sie blaue Äuglein hat, sie heult sie sich fast aus dem Kopf, da tut's ihm leid, und schließlich versöhnen sie sich wieder.

Ach, es ist doch schön, wenn das Leben ein paar Konstanten hat.

 

  • 27.3.2009

 

Die Waffenliebhaber (was es alles gibt) werden ärgerlich über und wehren sich gegen Gesetze, die den privaten Waffenbesitz verbieten. Wenn die sich mal so richtig echauffieren, das gibt ein fröhliches Amoklaufen, da gehen Dinge durch deren Körper, das hatten die schon ganz lange nicht mehr. Nun wollen sie vernünftige Regeln, was darauf hinauslaufen soll, dass sie ihre Waffen bei sich behalten dürfen. Wenn diese in Schützenvereinen organisierten deutschen Menschen von Vernunft sprechen, möchte ich nicht mehr vernünftig sein.

Aber zurück zu unserem Paar. Im Westen nichts neues: Reinhaun - Bluten - Leidtun - Versöhnen. Ist das nicht ein bisschen eintönig, frag ich mich. Bevor bei denen Neues passiert, muss wohl erst Miami absaufen.

 

  • 28.3.2009

 

Ich bekam neulich den diskreten Hinweis, die Botschaft, die ich mit dem Paar aus Miami vermitteln wolle, sei jetzt verstanden und verschandele meine Seite. Aber was soll ich sagen: kaum denk ich mir so, na dann lässt du sie halt machen, schon geht's wieder von vorne los: die haun sich, bluten, nölen und heuln und am Ende versöhn se sich wieder. Ja, was soll ich denn da machen, die könn aber auch nich voneinander lassen. Und mal im Ernst, die Botschaft würde ich ja nun auch gern mal verstehn. Aber ich verstehs nicht. Warum machen die das nur. Oder anders: wer versteht das schon, solche Botschaft! Ich verstehs ja selber nicht, und die Botschaft sei aber andernorts schon verstanden? Dass es lebendige Menschen gibt, die sich hauen, die sich nichts daraus machen, dass ihre Hauereien, ihre die Verderbtheit fördernden Aktivitäten in den Medien breitgetreten und beachtet werden, dass es solcherart also Medien und Paparazzi gibt, die so etwas gegen Geld verbreiten, technische Hochleistungen, um einen intellektuellen Seich zu verbreiten, was dazu führt, dass Leute, statt das zu Hause zu tun, sich auf dem Petersplatz in Rom besaufen? Dass es also Menschen gibt, die das völlig unverstellt konsumieren? Das kränkt mich.

Darüber hinaus lautete doch meine Ankündigung vom 27.2.: (Der Schwachsinn zur Kunstform erhoben? Das wolln wa doch mal sehn, ob wa das nich bewältigt kriegen.) Das wird noch hart für uns alle. Irgendwann geb ich das als Buch raus, und dann lüfte ich auch das Geheimnis des Wohnortes. Von diesem Paar.

 

  • 29.3.2009

 

Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, so sagt man doch eigentlich, aber ich denke gerade: wieso denn nicht! Seit wann bestimmt mein Nachbar, wie ich lebe, ob im Krieg oder im Frieden? Zum Beispiel diese zwei Leute, die sich unentwegt hauen, anheulen, drüber leiden und dann versöhnen: was haben die mit meinem Seelenfrieden zu tun? Vielleicht bin ich ja gerne gekränkt über mein Unverständnis und nehme die Gelegenheit wahr, die sie mir bieten. Ist das denn zu viel verlangt, dass wir Verantwortung übernehmen sollen für uns selbst, also da, wo es geht? Und dass die beiden Kleinen das nicht tun, ist ja nun nicht mein Problem, oder? Außerdem: ich hab ja noch gar nicht angefangen, darüber nachzudenken, was die da eigentlich treiben, die solln sich nur vorsehen, wenn ich das nämlich tue, werde ich sehr eigen. Man kann am kleinsten Haken das Kleid einer solchen ganzen Welt aufhängen.

 

  •  31.3.2009

 

Die Übungsleiter und Trainer des Deutschen Sportbundes opfern ihre Zeit, um jugendlichen Sportschützen Charakterfestigkeit zu vermitteln. Damit tragen sie aktiv zur Prävention von Waffenmissbrauch bei. (Der Spiegel 14/2009, Leserbrief)

Oder wie es in meiner Generation hieß: fighting for peace is like fucking for virginity.

Und dann gib's da noch diese zwei junge Menschen, die ein Hauen und Stechen tun, dass es eine Art hat. Natürlich gibt's Verletzte, vor allem auf ihre Seite, und daher gips dann Blutergüsse, vor allem im Augenbereich, aber auch der Oberkörper tut's ersmal nicht mehr. Das tut wiederum ihm leid, da er sein Weichteil ja nun auch unansehnlich finden muss. Da tut ihm auch sein Herze weh, und sein Piller, der is nun nämlich trockengelegt. Da es ihm aber leid tut, tut es ihm nicht so gut gehen, und daher nimmt sie sich ein Herz und sagt erst sich, dann ihm: Na gut, versöhn wir uns noch eimal. Aber nur dies eimal. Tut.

Ich finde auch, es reicht nun langsam. Zumal die Seite hier zu Ende ist. Wer also die Botschaft weiß, soll sie mir sagen, denn das hier ist ein Rätsel. Wer hat's gelöst? Vor allem folgendes: Warum gehen mir bei diesen beiden Leuten immer die Buchstaben verloren, da ich doch einen unerschöpflichen Vorrat habe! Zum Beispiel das R: Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr. Ich könnte endlos so weitermachen, nur um zu beweisen, dass ich sehr viele Rs habe, aber das macht nur meine Seite voll ohne Sinn und Verstand, und man könnte denken, ich wollte Seiten schinden.

Geht es nicht letztlich immer um den Weg zu uns selbst?

Hier jedenfalls ist die Verbindung zur nächsten Seite.

 

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