Thomas' Gedanken zum Tage und zur Zeit

 

 

back home

zur vorherigen B-Loq-Seite

 

 

 

Der Mensch hat nicht Natur, sondern er hat Geschichte. Der Mensch ist kein Ding, sondern ein Drama. Aber der Mensch muss nicht nur sich selbst schaffen, sondern das Schwierigste, was er tun muss, ist entscheiden, was er will. Ob als Original oder Plagiator, der Mensch ist der Romandichter seiner selbst. Unter diesen Möglichkeiten hat er die Wahl. Infolgedessen ist er frei. Aber wohlverstanden, er ist frei aus Zwang, ob er will oder nicht.

José Ortega y Gasset

 

  • 9.8.2009

 

Eine neue Umfrage in meinem Blog: Wie fällt man eine Entscheidung? Pro- und Contra-Listen kenne ich übrigens, und wir wissen, dass die nicht sehr weit helfen.

Antworten an Thschnura@googlemail.de

 

  • 13.8.2009

Schatten

  • 14.8.2009

 

Die Wahrheit I

„Ich möchte aber, dass wir ganz offen und ehrlich miteinander sind…“ sagst Du mir. Und was kommt dann dabei raus? Man haut sich scheinbare Offenheiten um die Ohren, die an Körperverletzung grenzen. Die Wahrheit sagen: was soll denn das sein? Kennen wir denn die Wahrheit? „Aber nein“, sagst Du, „es geht doch nur um das, was ich fühle oder tue!“ Ja? Und warum sagst Du mir dann nichts von dem Bauchgrimmen und dem Pups, den Du hattest? Wäre doch auch offen und ehrlich. Und wie so oft die Frage: Wo fängt denn das an, und wo hört es auf? Und wenn ich vergesse, den Film zu erwähnen, den mir mein Freund gezeigt hat, bin ich dann unehrlich? Stehst Du dann moralisch über mir? „Du weißt doch genau, was ich meine“, sagst Du mir. Kann sein, kann aber auch nicht sein, ich glaube, ich weiß eher nicht genau, was Du mit Offenheit und Ehrlichkeit meinst. Von Wahrheit kann nicht die Rede sein. Von der haben wir überhaupt keine Ahnung, nicht einmal die Physiker oder Genetiker. Deine Offenheit dagegen hat eher den Charakter einer Beichte, aber ich bin nicht Dein Beichtvater. Und wenn Du im Namen der Offenheit mir Deine Lasten aufbürdest, dann solltest Du Dein Leben überdenken und ob Du Dich im Moment nicht vielleicht übernimmst. Dafür aber bin nicht ich verantwortlich. Du meinst aber, ich sollte in den Belangen offen und ehrlich sein, die für Dich interessant sein könnten. Nur: woher soll ich denn wissen, was für Dich interessant ist? Außerdem meinst Du doch damit, ich soll Dich nicht mit anderen hintergehen. Was heißt denn das? Dass ich mit Freunden durch den sommerlich nächtlichen Hafen von Rethymnon ziehe? Dass lieber Du es wärst? Das hat doch jetzt mit Offenheit nichts zu tun, das sind doch Kindereien.

 

  • 22.8.2009

 

Der Paradefall für den Aufstieg und die Etablierung der Bescheuertheit ist sicher die in den letzten Jahrzehnten betriebene feministische Sprachpolitik. Wenn sich in den sechziger Jahren der Regierende Bürgermeister von Berlin in einer Rede an »alle Berliner« wandte, wäre weder er noch irgendeine (West-)Berlinerin auf die Idee gekommen, er könnte nur die männlichen Berliner angesprochen haben. Niemand wurde und niemand fühlte sich dadurch diskriminiert. »Alle Berliner« – das sind einfach alle Menschen, die in Berlin leben. Erst die durch feministische Daueragitation oktroyierte Veränderung der Hörgewohnheiten schafft hier das Problem, für dessen Lösung man dann das Rezept, eben das Quotendeutsch, parat hat. Seitdem gibt es nur noch »Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten«, »Magdeburgerinnen und Magdeburger« oder – in der verschärfen bisexuellen Variante – »MitarbeiterInnen«, »GesundheitsreformerInnen« usw. Nicht so zu reden, sei frauenfeindlich. Und dies ist längst nicht mehr nur auf das rot-grüne Lager beschränkt, sondern gilt auch im letzten Winkel der konservativen Provinz.

Nun haben totalitäre Ideologien schon immer versucht, eine Neuordnung der Verhältnisse durch rigorose Sprachnormierung, vor allem eine Ersetzung des Lexikons, durchzusetzen. (Man denke hier etwa an George Orwells »Neusprech« oder die DDR-Kreation der »Jahresendfigur mit Flügeln«.) Was am Quotendeutsch jedoch neu und auch anders ist, ist die ideologische Durchforstung und Umstülpung von Syntax und Semantik. Keine grammatische Form, Wortbedeutung oder Formulierung, die nicht auf ihre vorgebliche »Männlichkeit« oder ihren latenten patriarchalischen Herrschaftsgehalt durchleuchtet würde. Und zwar jenseits aller sonstigen Sinnzusammenhänge. Anfang der neunziger Jahre hielt ich einen machtsoziologischen, später im Merkur (Nr. 513, Dezember 1991) veröffentlichten Vortrag über Seilschaften. Es ging um Interessendivergenzen als inneren Sprengsatz im Gefüge solcher Gruppen: Wenn der Obermann das Ziel schon erreicht hat, kann er, wenn er will, das Seil kappen und Mittel- und Untermann abstürzen lassen. Als ich dies referierte, meldete sich aufgeregt eine junge Frau: Sie fände das alles ganz furchtbar, was ich da erzählte, und vor allem störe sie, dass die Mitglieder der Seilschaft bei mir allesamt Männer – Obermann, Mittelmann, Untermann – seien. Es dauerte einen Moment, bis ich meine Verdutztheit überwand. Als ich ihr dann jedoch anbot, sie dürfe anstelle meiner Bezeichnungen im Geiste gern »Oberfrau«, »Mittelfrau« und »Unterfrau« einsetzen, war es ihr irgendwie auch nicht recht.

Rainer Paris, Bescheuertheit
Professor für Soziologie in Magdeburg


  • 13.9.2009

 

„Endlich sind wir der Entdeckung auf der Spur, mit der wir alle menschlichen Krankheiten beenden!“ Ich bin jetzt zweiundfünfzig Jahre alt. Ich habe das schon öfter gehört. Wie Sie sehen, stimmte es bisher nicht. „Diesmal aber wirklich!“ – „Ach so, ja. Sicher.“ Wie auch in dem anderen Fall: diesmal ist wirklich Weltuntergang! Ha! So viele großspurige Versprechen, so wenig Verlässlichkeit. So etwas ist typisch für Drogenabhängigkeit. Auch Ruhm oder Geld können zur Droge werden.

Auf deine Lider senk ich Schlummer,
auf deine Lippen send ich Kuß,
indessen ich die Nacht, den Kummer,
den Traum alleine tragen muß.

Um deine Züge leg ich Trauer,
um deine Züge leg ich Lust,
indes die Nacht, die Todesschauer
weben allein durch meine Brust.

Du, die zu schwach, um tief zu geben,
du, die nicht trüge, wie ich bin -
drum muß ich abends mich erheben
und sende Kuß und Schlummer hin.

Gottfried Benn

He, Gottfried, altes Schnabeltier, was denkst du denn, was dir irgendein Mensch abnehmen könnte? Deine larmoyante Selbstbejammerung? Die ist allerdings schwer zu ertragen. Die solltest du lieber selbst abtragen. Und falls ich je herauskriegen sollte, dass du mit "Du" Else Lasker-Schüler gemeint haben solltest, werde ich jeden einzelnen deiner Jammerlappen so auseinandernehmen, dass es dich noch post mortem dauern sollte, dieses je veröffentlicht zu haben. Wenn du schon findest, dass es schwer zu tragen sei, wie du bist, solltest du wenigstens die cojones haben, es selbst und still zu tragen. Denn dafür, dass du Ballast trägst, bist ja schließlich du verantwortlich, nicht wahr? Und dafür, mit wem du den Abend verbringst, auch, oder?

 

  • 24.9.2009

 

Verdammtes, sinnloses Rattenrennen: man arbeitet sich ein zweites Loch in den Arsch, um sich ein neues Sofa zu kaufen, auf dem man dann nur noch herztot zusammenbrechen kann. Und hinter dem Sofa hocken unsere vereinsamten Kinder, kratzen sich die Finger blutig an edelstählernen Federkernen und haben jegliche Fassung verloren. Und der überlebende Rest von uns schaut sich von Fall zu Fall fassungslos die erbarmungswürdigen Reste an und begreift nicht mehr, was er sieht. Und drüben die Fabrik fängt keinen Satz mit und an, denn sie kennt kein Vorher und kein Nachher, nur noch ein Lang. Wie lang? Lang.

Ja, was denn nun? Jammern oder handeln?

 

  • 27.9.2009

 

Um zehn nach drei
ist der Lenz vorbei.
Alle Fliegen, die schon da sind,
alle Mütter, die Mamma sind,
alle Herren, die Pappa sind,
singen Lieder, die dada sind;
Alle Vögel alle.

Kurt Schwitters, 1944

 

 

  • 6.10.2009

 

Was fehlt? Was fehlt einem Menschen, wenn er nicht mehr wach sein will, wenn er es vorzieht, zu schlafen, wenn es ihm die leichtere Alternative zu sein scheint, sich in Rausch und Betäubung zu verziehen, wenn es ihm am Ende lieber ist, tot zu sein als dieses eine Leben zu Ende zu bringen?

Wenn Politiker in Talkshows lächeln (was haben die da überhaupt zu suchen!), dann ist das ein Verhalten, das eigentlich mit einer sofortigen Ohrfeige quittiert gehört. Dieser frech-dreiste Gesichtsausdruck, der herablassend gemeint ist, diskreditiert nämlich nicht nur sich selbst, was ja noch egal wäre, sondern auch jedes andere Lächeln in einer sowieso schon freudarmen Öffentlichkeit. Ich sehe jetzt diese Grimasse auch bei Leuten, die nun wirklich keinen Grund zum Lächeln haben.

Was übrigens kurios ist: ich schaffe es tatsächlich nicht, einem von diesen Leuten bis zum Ende zuzuhören. Philosphie-Vorlesung? Kein Problem. Mathematiker? Hat geklappt. Laudatio in der Frankfurter Pauls-Kirche? Na klar. Politiker? Aus. Vorbei. Geht nicht. Egal, wer es ist, es klappt nicht.

Hier ist mal wieder ein Link zu dem Aufsatz "Wie wäre es, gebildet zu sein" von Peter Bieri.

 

  • 8.10.2009

 

Und dann die Sintflut: ein heftiger, regionaler Regen, der im Jahre 2501 v. Chr. die Gegend unter Wasser setzte und ein knappes Jahr anhielt. Da dann aber den Weltuntergang draus zu machen entspricht der menschlichen Selbstüberschätzung und dem Verlangen nach Bedeutung.

 

  • 13.10.2009

 

Die Wahrheit II

Jetzt wird mir klar, warum Menschen von anderen die Wahrheit über was auch immer wissen wollen: sie wollen Begründungen. Es geht überhaupt nicht um die Wahrheit. Sie sind der Meinung, wenn sie eine wahre Erklärung haben, fällt es ihnen leichter, scheinbar unerträgliches zu ertragen. Dabei wäre es doch wirklich mal eine Lektion darin, bei sich selbst zu bleiben, Dinge einfach hinzunehmen und nicht nach Gründen zu fragen. Es gibt eine ganze Menge so genannter unangenehmer Gefühle, die sich durch diesen Trick erträglich gestalten lassen: wenn wir nicht dem kindischen Wunsch nachgeben, diese Art von Wahrheit über die Sache wissen zu wollen. Denn immer werden wir mit dem faden Gefühl zurückbleiben, sie irgendwie doch nicht erfahren zu haben.

Ein Streitthema in Beziehungen ist die Menge der geleisteten Arbeit am gemeinsamen Leben: Du tust nicht genug im Haushalt, du verdienst nicht genug Geld. Das resultiert aus der Unterstellung, der Partner sei im Grunde dumm, faul oder wolle es sich auf Kosten des anderen bequem machen. Damit wird eine Lebensuntüchtigkeit unterstellt, die den überprüfbaren Fakten nicht standhält: beide schaffen inzwischen typischerweise alles, sie kann Geld verdienen, er kann haushalten, und wenn einer von ihnen das andere nicht tut, dann vielleicht auch deswegen, weil er müde ist und sowieso etwa sieben Jahre eher stirbt, ohne dass ihm dafür irgendetwas entgegengebracht wird.

 

 

Verschenkte Zeit, unersetzliche Zeit, einzigartig und stark, einmalig und unwiederbringlich, keine zehntausend Pferde bringen sie zurück, nichts, was geschah, wird ungeschehen, die Zeit wird nicht ersetzt, entsetzt wird es uns nicht bewusst, verlorene Zeit, angesichts derer der Tod makaber wird, da keine Träne geweint wird, und würde sie es, es wäre gleich. Die Zeit kann sehr groß werden. Die Rufe verhallen, die Sekunden verwehen. Das ist der Fluch der Verlassenheit: dass es niemanden gibt, um dessentwillen man auf sich achtgeben sollte.
  • 19.10.2009

 

Im US-amerikanischen Militätgefängnis in Baghrein starb ein afghanischer Taxifahrer, gegen den bekanntermaßen nichts vorlag. Soldaten hatten ihn 48 Stunden lang an den Händen an der Decke aufgehängt und auf seine Beine eingeschlagen. Die obduzierende Ärztin schrieb, seine Beine seien von breiartiger Konsistenz gewesen. So starb er. So wurde es beschrieben im SPIEGEL von vorletzter Woche.

Es gibt Ereignisse, die ein Makel auf der Haut der Menschheit und als Schande im Gedächtnis bleiben, die machen, dass man sich schämt, mit Soldaten die kulturelle und biologische Herkunft, Rasse und das Geschlecht zu teilen.

 

  • 20.10.2009

 

Morgens und abends zu lesen

Der, den ich liebe
Hat mir gesagt,
Daß er mich braucht.

Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem Regentropfen
Daß er mich erschlagen könnte.

Berthold Brecht

Sind nicht Poesie und Musik der einzige Trost gegen die Ekelhaftigkeiten und Gemeinheiten, die Menschen tun können?

 

  • 21.10.2009

 

Die Banker vernichten Geld und die so genannten Finanz-Profis bekommen Bonus-Zahlungen. Dabei werden sie von gewählten Politikern unterstützt. 2009 wird mehr Geld an Bonus-Zahlungen ausgezahlt als 2007. Die schlingernden Banken werden mit Steuergeld stabilisiert, unter anderem auch mit meinem. 1,2 Millionen Kinder leben unter der Armutsgrenze, Bildung wird immer schwerer bezahlbar, Schulhefte überfordern manchen Familienetat. Und Hartz IV muss für Kinder neu berechnet werden, weil die Windeln zu teuer sind. Aber man kann ja nicht sagen, dass die Bankangestellten nichts tun als Obst verkaufen. Sie essen auch Bulletten. Die aber sonst niemand haben soll, und wenn sie danach verschimmeln. Die Bulletten, nicht die Banker.

Es ist die Unerträglichkeit der allbeliebigen Gegenwart, die uns den Wunsch nach Wahrheit als Sehnsucht nach etwas absolut Stabilem eingibt. Die Annahme, es gebe etwas wie die Wahrheit, die dann auch unverrückbar und fest ist, nichts mehr von dem anything goes: ich bin bei Facebook FreundIn, nicht einmal das Geschlecht stimmt mehr. Und unsere Computer machen all diese Bescheuertheit mit, sodass wir wie nach Strohhalmen nach etwas so schwankem wie der Wahrheit greifen und uns wundern, wenn wir absaufen.

 

  • 31.10.2009

 

Der im Zug zwei Reihen vor mit auf die Uhr schaut, sieht aus, als triebe ihn folgender Gedanke um: "Es ist viertel nach sieben. Wir kommen um viertel vor acht an. Ich habe also noch eine halbe Stunde. Ob ich noch hier im Zug kacke? Viele Fahrgäste sind ja heute nicht. Da muss ich nicht fürchten, dass ich die Klotür aufmache und mir schlägt der Geruch von körperwarmer Kacke aus dem Körper eines anderen Mannes entgegen."

Ich glaube, manchmal fahre ich doch gerne mit der Eisenbahn.

"Tatsache ist aber auch, dass ich, wie die meisten Kinder, eine engere Verbindung zu meiner Mutter hatte als zu meinem Vater. Sie sorgte sich schließlich um mich, während er selten zu Hause und immer ziemlich abgespannt war. Dass er uns mit seiner Abschinderei diese häusliche Idylle überhaupt erst ermöglichte und der Druck der finanziellen Verantwortung schwer auf ihm lastete, habe ich als Kind noch nicht wahrgenommen." (Arne Hoffmann, Rettet unsere Söhne, S.20)

Heute sterben die Väter acht Jahre eher als die Mütter, werden dafür aber auch zu Lebzeiten kräftig verhöhnt. Sie haben da nichts von.

Erst die Fragen des Blinden öffnen dem Sehenden die Augen.

Da habe ich mal etwas sehr Schönes entdeckt. Nimm Dir mal die 10 Minuten Zeit, das anzuschauen: Sandmalerei. Hatte ich bisher noch nicht gekannt.

 

  • 11.11.2009

 

Deutsche Telekom, Deutsche Bahn, Lidl, Schlecker, Edeka, die Deutschen, Dresdner, Commerz und wie sie alle heißen Banken: jeder verkackte Kaufmann späht nicht nur die Daten seiner Kunden aus und verkauft die neben seinem ganz persönlichen Pofel und Ramsch weiter, er dringt auch in das Privatleben seiner Mitarbeiter ein, als sei er der Verkäufer des ewigen Seelenheils, Verkünder von Religionen und Setzer von Evangelien und sein angestellter Mensch sein Besitz. Was bilden sich diese Verkäufer eigentlich ein? Warum glaubt eine Versicherung, sie müsste oder dürfte auch nur etwas über die Menschen wissen, denen sie ihre Produkte anbieten! Dein schnieker Banker mit seinem albernen Schlips vornedran ist Verkäufer, dein Versicherungsverkäufer mit seinem alerten Gequatsche ist Verkäufer, dein Autohändler, dein Friseur ist ein Verkäufer, dein Arbeitgeber, dein Telefondienstanbieter: all diese aufgeblasenen Fatzkes und quakenden Frösche, die uns permament anschreien mit ihren Wagen, Weibern und heißen Regionen in Radio und Fernsehn, auf Bild und Plakat, behaupten, sie müssten in den Besitz von Daten kommen, von Blutgruppen, Genkarten und Urinproben, um ihr unmoralisches und platt gesagt verschissenens Tun irgendwie wirtschaftlich absichern zu können. Um keinen Schiffbruch zu erleiden am Geschäft mit ihrem Verbraucher, sagen sie. Den aber erleiden sie an sich selbst. Der Verkäufer als Seelenhändler, als Verkäufer von Seelen, seiner Seele: es ist schon so weit. Die Sache, die er verkauft, als Lebenssurrogatersatz. Es ist ekelhaft.

Und sind doch nichts anderes als Verkäufer, Weitergeber von Hergestelltem, Verkleidete, die nachts schlecht schlafen, wenn ihre Zahlen nicht stimmen. Wenn ihre Familie scheitert, wenn ihr Oberverkäufer eine nörgelige Frau hat. Selbstüberschätzer, Selbstaufgeblasene, Fehlgeleitete und schlicht gesagt Arschkrampen vor dem Herrn.

 

  • 21.11.2009

 

... und Anfang glänzt an allen Bruchstellen unseres Mißlingens.

Rilke, Die Welt steht auf mit euch

Ich kenne jemanden, der nicht zu einem Fest gehen will, um nicht seiner verlorenen Liebe zu begegnen. Der Schmerz muss gross sein. Und doch wird dieses Fest gefeiert werden, was beweist, wie bedeutungslos unser Schmerz ist und alle unsere Gründe. Wenn Du Dich nicht kümmerst, dann wird es nicht getan. Und wenn Du Dich entscheidest, es zu tun, dann ist es getan.

Das Fleisch schlägt auf in den Vorstädten
Die Trommeln schlagen mit Macht
Gott im Himmel, wenn sie etwas vorhätten
Wäre es heute nacht.

Aus: Brecht, Ballade von der Judenhure Marie Sanders

 

  • 6.12.2009

 

Man denkt üblicherweise, man wüsste viel über einen Menschen, wenn man nur die Daten wüsste: seine offiziellen, im Ausweis niedergelegten, seine Bankdaten, aber auch seine biographischen Daten: geboren von, gelebt bei, verheiratet mit... Tatsächlich aber weiß man damit immer noch fast nichts über ihn. Er ist nicht die Sammlung seiner Zahlen und Namen.

Nun gibt es aber Menschen, die dennoch glauben, vor allem ihre Biographie schützen zu müssen, weil dann ja empfindliche Dinge bekannt werden könnten. An dieser Stelle wird dann deutlich, wie verängstigt und verarmt wir Menschen sein können, wenn wir uns auf unsere Zahlen, Daten und Fakten reduzieren. Wir versuchen die Oberfläche zu schützen und kommen auf diese Weise niemals in die Tiefe unseres Seins.

 

  • 9.12.2009

 

Wenn uns der Mund verboten wird, versuchen wir uns durch kleine Handlungen oder gar nur Gesten, sogar durch Gegenstände zu behaupten. Ein stummes, gelebtes oder gestorbenes Nein, die innere Emigration, das letzte Verstummen, das stoffgewordene Stück Erinnerung oder dessen Aufgabe, der Verlust. Sie sind schwer zu deuten, bleiben eine Zeit lang unverdächtig. So können sie uns helfen, die Erniedrigung in eine Würde umzukrempeln, die eine Zeit lang unverdächtig bleibt.

 

  • 13.12.2009

 

Deine Augen, Lichtspur meiner Schritte;
deine Stirn, gefurcht vom Glanz der Degen;
deine Brauen, Wegrand des Verderbens;
deine Wimpern, Boten langer Briefe;
deine Locken, Raben, Raben, Raben;
deine Wangen, Wappenfeld der Frühe;
deine Lippen, späte Gäste;
deine Schultern, Standbild des Vergessens;
deine Brüste, Freunde meiner Schlangen;
deine Arme, Erlen vor dem Schloßtor;
deine Hände, Tafeln toter Schwüre;
deine Lenden, Brot und Hoffnung;
dein Geschlecht, Gesetz des Waldbrands;
deine Schenkel, Fittiche im Abgrund;
deine Knie, Masken deiner Hoffart;
deine Füße, Walstatt der Gedanken;
deine Sohlen, Flammengrüfte;
deine Fußspur, Auge unsres Abschieds.

Paul Celan

 

  • 21.12.2009

 

Es ist schon erstaunlich, was Menschen für lächerliche Dinge tun, wenn sie irgendwelche Gefühle haben, von denen sie denken, dass sie sie nicht haben sollten oder dürfen oder wollen. Sie schieben sich die Faust in den Mund, sie hauen eine Faust in den Spiegel, sie riechen an Riechsalz und nehmen in großen Mengen Psychopharmaka, die abhängig und krank machen, sie trinken hochprozentigen Alkohol, alles nur, um nicht wahrnehmen zu müssen, was da ist. Sie beißen sich die Fingernägel bis aufs Blut runter und lügen, es sei nichts, sie glauben sogar, es sei nichts, sie verleugnen sich selbst, tun so, als ob nichts wäre, und dabei sieht doch jeder die Lüge, sie zwingen sich zu neurotischen oder gar psychotischen Reaktionen, nur um ihrer Wahrheit nicht ins Gesicht schauen zu müssen, sie machen sich krank und verderben ihr Leben. Und warum? Weil sie Emotionen haben, weil sie traurig oder wütend sind. Und das tun sie freiwillig, ein riesiges Kasperltheater, bei dem sie nicht einmal sehen, dass sie sich lächerlich machen.

Wie konnten wir uns nur ermutigen, so zu handeln!

 

  • 25.12.2009

 

Wenn man Kinder und einen Fernseher hat, kommt man kaum umhin, auch einmal Filme aus dem Konzern von Walt Disney zu sehen. Und da wird mir klar: es gibt wohl kaum einen Konzern, der dermaßen zur Verrohung, Verblödung und zur Gemeinheit der Menschen beiträgt wie dieser: es werden Filme voller Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Zerstörung gezeigt, die suhlen sich darin, sich in die Luft zu sprengen und auf unterschiedlichste Art zu verletzen, zerstören, töten und mit allen Schuß-, Hieb- und Stichwaffen, Sprengstoff und ähnlichen Schweinereien. Zugleich aber halten sie große Stücke darauf, dass es zu keinerlei sexuell eingefärbten Handlungen kommt. Sie nennen sich selbst sauber und anständig. Produkte wie Hanna Montana und Britney Spears zeigen das ganze Elend:

Blut’ge Löcher in den Köpfen
zeigte man den Knaben gern,
doch von jenem Loch der Löcher
hielt man sie mit Schlägen fern.

Ich warne vor diesem Konzern, er ist das Schmutzigste, was ich kenne: während Krauss & Maffey , MBB und andere Panzer, Flugzeuge und Bomben herstellen, betreibt dieser die Verrohung in den Köpfen und Herzen unserer Kinder, so dass sie es später einmal für normal halten, bewaffnet zu sein und unsern kranken Nachbarn über den Haufen zu knallen, wenn es dem Herrgott so gefällt. Denn sie haben den auf ihrer Seite und glauben gar nicht, dass er kotzen will, wenn er diesen Dreck sieht.


  • 28.12.2009

 

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind.

Allein im Nebel tast ich toten Glanz,
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr,
Und die es trugen, werden mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der Andern muss man leben.

Mascha Kalèko, Tim Fischer

 

  • 1.1.2010

 

Kind (vor einem Kindercomputer): "Kuck mal, Mama, ein Schwein. Das ist böse." - Mama: "Das ist nicht klug genug, um böse zu sein. Das ist nur ein dummes Schwein, das tanzt."

Trifft das nicht auf nahezu jeden Kinderglauben über das Böse zu? Und: Besser hätte ich's auch nicht sagen können.

 

  • 16.1.2010

 

Full fathom five thy Father lies,
Of his bones are coral made;
Those are pearls that were his eyes;
Nothing of him that doth fade,
But doth suffer a Sea-change
Into something rich and strange.
And I alone am left to tell the tale
Call me Ismael.

Fünf Faden tief liegt Vater dein,
Sein Gebein wird zu Korallen;
Perlen sind die Augen sein;
Nichts an ihm, das soll verfallen,
Das nicht wandelt Meereshut
In ein reich und seltnes Gut.
Und ich allein bin geblieben, die Mär zu erzählen.
Nennt mich Ismael.

Shakespeare, Ariels Lied. In einer Variation von Laurie Anderson


  • 12.2.2010
Ich möchte, dass Firmen, die Jacken und Taschen herstellen, aufhören, ihre Namen auf Jacken und Taschen zu kleben. Blöd genug schon, dass sie Menschen in wandelnde Litfaßsäulen umgestalten, die sich dafür dann nicht zu schade sind, nun muss ich diesen Quatsch auch noch fortwährend lesen. Warum kann man so etwas nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangen!
  • 7.3.2010

 

Inwiefern kann ich eigentlich sicher sein, dass Leute wie die Herren und Diener von Disney, die sich in ihrem tauben Herzen ja für rechtschaffende Leute halten, eines Tages aufs Haupt bekommen für ihr menschenverachtendes Tun! Der Gedanke, dass sie in ihrem verrohten Zustand alt und hilflos werden und eigentlich auch immer schon einsam sind, ist nicht tröstlich.

 

  • 20.3.2010

Kein Staub ist aufgewühlt
und still ist mein Herz.

 

  • 9.4.2010

 

Elphinstone Reef, 23°56'43.07"N, 36° 5'18.71"E, Tauchtiefe etwa 56,5 m, Wassertemperatur nach zwei Sprungschichten bei 16 und 30 m: ca. 23°C; unter uns zieht eine Schule von Hammerhaien.

 

  • 16.5.2010

 

Öllöcher im Golf, die sie mit Golfbällen stopfen wollen, ein Vulkan, der uns bewegungsunfähig spuckt, der kälteste Mai seit drei Jahren und eine Bildzeitung, die über all dieses unterrichtet: ich glaube, ich bin auf den richtigen Planeten gelandet. Jetzt fehlt nur noch der Ähh-sagende Kommerzaffe von RTL, Dieter "oh du mein" Bohlen, und das Fass ist voll: ich möchte mehr mit uns zu tun haben.

Der Wunsch, Strafe erteilt zu sehen oder selbst zu erteilen, ist von jeher zum Misserfolg verurteilt, weil die Täter in ihren verrohten Herzen alt werden und, was ihnen zur Strafe geschieht, für den Lauf des Lebens halten. Jedes "siehste!" ist unangebracht. Was aber ist eine Strafe, die als solche nicht verstanden wird! Nichts als Gemeinheit, die uns den Mistkerlen gleich macht. So heißt es immer nur: Abschied nehmen.

 

  • 17.5.2010

 

Riad - Acht Jahre nach dem Brand in einer Mädchenschule in Mekka zog das Erziehungsministerium des streng muslimischen Landes [Saudi-Arabien] entsprechende Konsequenzen aus einem Skandal, der 15 Schülerinnen damals das Leben gekostet hatte. Die Zeitung "Saudi Gazette" berichtete am Montag, das Ministerium habe nun allen Schulleitern und dem Wachpersonal "klare Anweisungen" gegeben, dass Rettern in Notfällen sofort Zugang zum Schulgelände gewährt werden muss.

In jedem anderen Land der Welt wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Doch in der Pilgerstadt Mekka hatten Wächter der islamischen Religionspolizei im März 2002 Schülerinnen am Verlassen eines brennenden Schulgebäudes gehindert. Der Grund: Die Mädchen trugen keine Kopftücher und keine langen Gewänder. Augenzeugen hatten damals berichtet, die Religionspolizisten hätten die Schülerinnen sogar geschlagen.

Mitarbeiter der Behörde für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters bewachen auch heute noch die Mädchenschulen des islamischen Königreichs. Sie sorgen dafür, dass niemand gegen die staatlich vorgeschriebene Geschlechtertrennung verstößt.

Ich muss den Aufsatz von Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? aus gegebenem Anlass hier noch einmal verlinken. Ich befehle, dass er gelesen wird.

Und: Aus Bieri, "Das Handwerk der Freiheit":

Auch wenn die Naturgesetze bestimmen, was wir tun und denken, können wir uns unter Berücksichtigung der jedem Menschen gegebenen Bedingtheiten als frei verstehen. Frei sind wir in diesem Sinne genau dann, wenn wir unseren eigenen Überzeugungen gemäß handeln können. Ein solcher Freiheitsbegriff, der ein bewusstes Reflektieren und eine bewusste Entscheidung voraussetzt, aber auch für möglich hält, steht nicht im Gegensatz zum Determinismus. Die Idee einer "absoluten Freiheit", die gegen den Determinismus gerichtet ist, ist begrifflich inkohärent.

 

  • 17.6.2010

 

Irgendein Dreckskerl von Nichtsnutz hat die Adressenliste meiner E-Mail-Adresse bei aol geknackt und mit meiner vorgetäuschten Identität Hunderte und Aberhunderte von Aufforderungen verschickt, sich eine obskure Internetseite anzusehen, auf der Viagra zum Sonderpreis zu bestellen ist. Hier ist, was ich von Dir denke: Nichtsnutz. Stiehlst Menschen Zeit, die weiß Gott Besseres zu tun haben als Deinen Dreck aus der Welt zu räumen.

Bei allen, die betroffen sind, und das dürften alle sein, die ich kenne, möchte ich mich hiermit für das Ungemach und die Zumutung entschuldigen, die ja immerhin auch mit den Gedanken verbunden sein könnte, ich hätte letztlich doch auf die Seite der Unverschämtheit, Rotzlöffeligkeit und Geld- und Ruhmgier gewechselt. Auf der einen Seite so etwas wie am 20.3.2010 veröffentlichen, und andererseits so ein Geschmeiß? Aber: ich war es nicht.

 

  • 20.6.2010

 

Hier gibt es ein paar Videos von und mit der Musik, die wir vor Jahren mit Dakota gemacht haben. Am Bass: Bocki, am Schlagzeug: Rüdiger, Keyboard und Gesang: ich.

 

  • 11.7.2010

 

Im Internet nach einem einfachen Rezept gesucht. Chefkoch.de und den Eintrag »Hering im Pelzmantel« gefunden. Kurzer Blick in den Kühlschrank – fertig.

 

  • 6.8.2010

 

Die Götter beneiden uns um unsere Sterblichkeit.

 

  • 28.8.2010

 

Film-Link: dakota-idou

Hier sieht man Filmaufnahmen von Dakota, also von Rüdiger, Bocki und mir, bei den Aufnahmen unserer letzten LP: Idou. Wir haben da Auszüge aus der Apokalypse vertont, der Offenbarung des Johannes. Die Arbeiten fanden an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Musikern statt.

Das sind: In Hannover Wülfel im Rüdigers Tonstudio, Außenaufnahmen in Meitze in der Steinfabrik, in Rostock in einem stillgelegten Schiff und in einer beim Hafen gelegenen Kirche mit Sängern vom Opernchor, in Naumburg in der Marienkirche, deren Innenraum für das Konzert umgebaut wurde, mit einer Tanzperformance von Claudia Schmidt.

Diese Zeit und diese Arbeit, 1995 - 1997, gehört zu meinen Lebenshöhepunkten. Eine Plattenfirma hat sich nie für diese Aufnahmen interessiert.


  • 19.9.2010

 

Über die Fälle sexuellen Missbrauchs in den 70er und 80er Jahren am Canisius-Kolleg: "Der Jesuitenorden hat als erste Gemeinschaft der katholischen Kirche Opfern sexueller Übergriffe Entschädigungen im vierstelligen [€-] Bereich angeboten. ... Eine unabhängige Kommission solle klären, wer Anspruch auf das Geld habe..." Zur Diskussion stehen fünftausend Euro.

HOMELAND [by Laurie Anderson] (upcoming tour and next album) A combination poem and concert, Homeland will look at rapidly changing twenty-first century America. Using the synthetic language of technology and sensuous language of song-writing and poetry, it will look at reality shows, American style totalitarianism, sentimentality and shifting images of empire.

 

  • 26.9.2010

 

22:40, mein freund ist tot

 

 
Zur nächsten Seite

back home